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Realitätsprinzip verschriebene Aufgabe. Zunehmender Angstentwicklung wird in manchen Fällen mit einem Fluchtversuch — in der Regression, u.a. in der Verleugnung — begegnet: es ist anzunehmen, dass das „sekundäre Stadium des Wachdenkenden**! (Ferenzci) unter Druck gerät. Dass die objektive Urteilsfällung: die Realitätsprüfung selbst auf den Prüfstand kommt. Das soziale Zusammensein ist Teil unsere Ich-Werdung, ist erstes Zeichen unserer Hilflosigkeit - wenn der Säugling schmerz- und angsterfüllt zugleich das Objekt herbeischreit. Nach Freud sind Realangst und neurotische Angst kommunizierende Gefäße. Immer mischt sich auch das „Alte“ - im Unbewussten als Erinnerungsspuren Bewahrte - ein: „Die Affektzustände sind dem Seelenleben als Niederschläge uralter traumatischer Erlebnisse einverleibt und werden in ähnlichen Situationen wie Erinnerungssymbole wachgerufen.“?” „die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.“”? Im Fall der Pandemie tritt nun eine von außen verordnete und sich zum eigenen und zum Schutz der Anderen auch selbst auferlegte „Objektarmut“ auf. Zwischenzeitlich sind rund 9.000° Menschen in Österreich an Covid-19 verstorben. Auch der tatsächliche Objektverlust und die Gefahr einen solchen zu erleiden ist für viele Menschen eine Erfahrung in dieser Zeit. Freud sieht im Objektverlust die eigentliche Wurzel der Angst. „Die Angst erscheint so als Reaktion auf das Vermissen des Objekts“ Der drohende Objektverlust ist die Gefahr auf die hin die Angstreaktion auftritt. Diese Gefahr ist letztendlich die Steigerung einer Bedürfnisspannung, eine große Unbefriedigung, gegen die man ohnmächtig ist. Und es ist diese Hilflosigkeit, dieses Gefühl der Ohnmacht, die bei vielen Menschen einen Fluchtversuch bedingt. Die Hilflosigkeit nimmt dann ein Ausmaß an, das an den schreienden Säugling erinnert, da wo der Schmerz sich einmengt, die Gefahrensituation zur traumatischen Situation wird, sich der Säugling für immer verlassen meint. Die Unlust: die quantitativ unerträgliche Angstentwicklung befeuert die Wehrhaftigkeit des Ichs, das die Energie für die Abwehrmechanismen beisteuert: „...Es scheint dann klar, daß der Abwehrvorgang analog der Flucht ist, durch die sich das Ich einer von außen drohenden Gefahr entzieht, daß er eben einen Fluchtversuch vor einer Triebgefahr darstellt.“’° Freud beschreibt die Bildung der Phobie: „das Ich (kann) sich bei der Phobie durch eine Vermeidung oder ein Hemmungssymptom der Angst entziehen ...“?”” Die Angst (Freud meint hier die Kastrationsangst) sei eine fakultative und wird durch Ersatzbildung kontrollierbarer: sie tritt nur dann auf, wenn ihr Objekt Gegenstand der Wahrnehmung wird. „nur dann ist nämlich die Gefahrsituation vorhanden. Von einem abwesenden Vater braucht man auch die Kastration nicht zu befürchten. Nun kann man den Vater nicht wegschaffen.“?® Auch den Virus kann man nicht wegschaffen. Und dieser hat in seiner weltkugelumspannenden Kraft durchaus „Kastrationspotential“, wenn man diese metaphorisch weiter denkt: er reduziert und bedroht: bis hin zum Luft-abschneiden. Dem Ich steht es nicht frei, sich der gefährlichen äußeren Situation physisch zu entziehen. Jürgen Habermas beschreibt diese Besonderheit der Krise in einer Welt, die lokale und ungleichzeitige Krisen gewohnt ist, die im „Teilsystem der Gesellschaft von den zuständigen Fachleuten abgearbeitet“? werden so: „[Existentielle Unsicherheit] verbreitet sich jetzt global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.“ Trennungsängste, die im Laufe der Ich-Entwicklung durch die jeweilig empfundene Gefahr auftreten, wie auch Bestrafungsängste, haben einen gefundenen Nährboden in Zeiten der Pandemie. Die Unmöglichkeit zu unbeschwerter Nähe - insbesondere mit den zu Risikogruppen zählenden Verwandten, Freund_innen — der Beschnitt an Lust-Erleben im „gemeinsamen Dritten“: wie Ausbildungsstätten, Kunst- und Kultureinrichtungen, Gastronomie sowie die Reduktion der Mobilität - all das stellt eine Trennung dar. Der Über-Ich-Angst muss das Aufgebot an Freiheitsbeschränkungen wie ein Strafkatalog (imaginierter Eltern) vorkommen. Nebst Heimabsonderung, Quarantäne und Lockdown, die einem Hausarrest gleichen, das Gebot Kontakte zu reduzieren bis hin zur Bedrohung von Zusammenkünften zu seit frühester Kindheit hoch besetzten Feiertagen. Diese Momente der Angstassoziation könnten eine Abwehr mobilisieren, die zu erklären vermag, warum es bei vielen Menschen zu Regression kommt, die selbst den primitiven Abwehrmechanismen zuzurechnen ist, wie auch Verleugnung, Projektion, Entwertung u.a., die helfen, das zu beobachtende Präventionsparadox zu den „Motiven“ zurückzuführen. Das für diese Vorgänge maßgebliche Walten des Lustprinzips braucht — um das Thema der Angst und der Abwehr von verschiedenen wesentlichen Seiten beleuchtet zu haben — auch den Wiederholungszwang, der nur scheinbar ein Antagonist des Lustprinzips ist. In den Einzugssphären des Lustprinzips ist der Bemächtigungstrieb zu verorten. Wenn der Bemächtigunsgtrieb sich nun im Sinne des Lustprinzipes aufbäumt, das Ich sich der Hilflosigkeit erwehrt, dem quantitativen Ungemach: der Unlust entgegentritt, so könnte es sich tatsächlich das geballte Arsenal wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Hilfe nehmen — wobei auch das einer Form der Abwehr zurechenbar werden kann und die Rationalisierung ebenfalls eine Möglichkeit ist, der Angst zu begegnen und auch ggf. sich der Angst durch die „Flucht nach vorne“ zu entziehen. Dies wäre dann eine schram Realitätsprinzip orientierte Vorgehensweise und je nachdem wie groß die Angst ist, die Unlust macht - je nachdem wie viel „alte Angst“, die in den Es-Vorgängen wirksam ist, das Ich zu Verdrängungsmanövern anspornt — mag eben das Streben zum Realitätsprinzip ausgebremst sein und die Regression — die primitiven, früheren Abwehrmechanismen — kommen zum Zug. Wie das Kind im Spiel Situationen wiederholt, um sie sich anzueignen, sich zu ermachtigen, aus dem Passiven ins Aktive zu gelangen, streben wir danach die Hilflosigkeit zu beseitigen. Diese Verkehrung vom Passiven ins Aktive beschreibt Freud als eine der drei großen Polaritäten des Seelenlebens.“? „(...) man kann behaupten, dass die richtigen Vorbilder für die Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen.“ Das Virus als bezwungen anzunehmen, gleicht einem Spiel von Kindern, die auszogen Gespenster zu verscheuchen — der Verleugnung in der Phantasie - mit Magie und Zauberei gegen „Gespensterangst““. Die Gebärden mancher Politiker_innen befördern auch solch Assoziationen. Dazu kommen Formeln, die sich der Realität verweigern: „Es ist Licht am Ende des Tunnels.“ sagte Bundeskanzler Kurz am 02. September 2020, als sich in Österreich längst exponentielles Wachstum eingestellt hatte.“° Natürlich wird die Realität in dieser Aussage nicht vollkommen verabschiedet, denn der Tunnel wird genannt, doch ebenso wurde ein Licht angeknipst, wo esin der Realität der Pandemie noch lange nicht zu schen Juni 2021 11