Mit dabei die kleine Georgia, damals etwa zehn Jahre alt. Eines
Tages öffneten sich die Gefängnistore und ein großer offener
Wagen mit etwa 20 Gefangenen fuhr heraus. Die Gefangenen
sind gesessen-regungslos-hinter ihnen standen zwei Soldaten
mit Maschinengewehren im Anschlag. Als der Wagen an ihnen
vorbeifuhr hat Großvater seinen Hutzum Gruß gehoben. Mehr
nicht . Kein Wort, kein Blick, keine Tränen - nichts. Sie haben
ihn nie mehr wiedergeschen. Beklemmende Stille verbreitete sich
im Raum, als meine Tante mir von dieser letzte Begegnung mit
ihrem Vater erzählte. Tränen kamen langsam und liefen lautlos
über das Gesicht der alten Frau. Und ich habe es nicht gewagt
noch irgendwelche Fragen zu stellen.
So viele Familiengeschichten habe ich hundert Mal von ihr
gehört — diese hat sie nur ein einziges Mal erzählt.
Das paradiesische Leben in Batumi, wie es mir geschildert
wurde, war wohl nur in den Augen der Kinder so paradiesisch.
Vermutlich wurden alle politischen und finanziellen Probleme
von ihnen ferngehalten. Damit war es nun unwiederbringlich
vorbei. Die Kinder durften das Haus nur mehr verlassen, um zur
Schule zu gehen. Zum Glück gab es den großen Garten und den
Hund Shekka zum Spielen. Shekka war groß und schneeweiß
mit langem zottigen Fell. Ein gutmütiges Kuscheltier für Kinder.
Bald nach der Verhaftung meines Großvaters wurden noch
ein Bruder und ein Neffe verhaftet. Alle drei kamen in ein si¬
birisches Straflager, keiner von ihnen ist zurückgekehrt. Die
Witwe des Bruders, die mein Großvater aufgenommen hatte,
zog mit ihren Söhnen aufs Land zu einem anderen Verwandten.
Zwei Jahre hat sich meine Großmutter mit ihren vier Kindern
irgendwie durchgeschlagen. Sie tauschte Schmuck und andere
Wertgegenstände für Nahrungsmittel und hoffte vergeblich auf
Großvaters Rückkehr. Die stalinistischen Säuberungsaktionen
verschärften sich weiter, bis man zuletzt auch Jugendliche ver¬
haftet hat. 1939 hat sich meine Großmutter entschlossen, nach
Griechenland zu flüchten, zumal ihre Eltern bereits seit etlichen
Jahren von Erzerum aus nach Athen zwangsumgesiedelt wur¬
den. Sie bestieg mit ihren Kindern, Hund Shekka und ein paar
Habseligkeiten die Kutsche und fuhr nach Sotschi. Das Haus
war an einen georgischen Rechtsanwalt vermietet. Am nächs¬
ten Morgen ging ein Schiff nach Piräus. Der Kapitän weigerte
sich allerdings, den Hund an Bord zu nehmen, und wollte sich
auch von den Tränen der Kinder nicht erweichen lassen. Das
Schiff legte ab und Shekka blieb alleine zurück im Hafen von
Sotschi. Er bellte und jaulte erbärmlich, ein weißer, hin und her
springender Punkt am Horizont der immer kleiner wurde bis er
zuletzt ganz verschwand.
Großmutter war also in Athen gelandet mit vier Kindern. Mein
Vater war bereits 17 Jahre alt, Georgia 13 Jahre und der 12-jäh¬
rige Thomas hatte die kleine 2-jährige Fifi auf seine Schultern
genommen und durchs Leben getragen. Der nächste Schock
wartete bereits auf meine Großmutter. Ihr Vater war kurz vor
ihrer Ankunft in Athen gestorben. Sie lebte vorerst bei ihrer
Mutter und bald stellte sich heraus, daß sie keinen Zugang zu
den Geldern ihres Mannes bekam, die auf einer Athener Bank
lagen. Großvater hatte in den Jahren vor seiner Verhaftung größere
Geldsummen über einen Cousin nach Athen bringen lassen, mit
Eleni mit ihren Brüdern Miltiades & Christos und Tochter
Sophia, Athen 1966
dem Auftrag dort ein Haus für die Familie zu kaufen. Da dieser
keine Entscheidung treffen konnte, welches Haus er nun kaufen
sollte, hat er das Geld aufeiner Bank deponiert, aber leider hatte
nur Großvater eine Zugangsberechtigung. Er wußte schon län¬
ger, daß er Georgien (damals bereits zur Sowjetunion gehörig)
wird verlassen müssen. Eine Inhaftierung hat er offenbar nicht
erwartet. So hater sich zu lange Zeit gelassen. Großmutter stand
nun da ohne Geld. Die Bank erklärte, daß man entweder einen
Totenschein bräuchte oder das Geld könne erst vererbt werden,
sobald das jüngste Kind großjährig wäre. Meine Großmutter
hat erst kurz vor ihrem Tod einmal darüber gesprochen und daß
sie damals überzeugt war, Großvater werde zurückkehren. Zwei
Jahre später, 1941, wurde Griechenland von der deutschen und
der italienischen Armee besetzt. Die Griechische Nationalbank
wurde bekanntlich zu 90% von den Nazis geplündert, aber auch
private Gelder wurden konfisziert und Großmutter hat nie einen
Groschen von diesem Familienkonto geschen.
Nun begann die Zeit des Hungers für meine Familie. Nachdem
auch bald ihre Mutter gestorben war, ging meine Großmutter
nach Nordgriechenland in einen Ort namens Ptolemaida. Sie
lebte mit den Kindern monatelang in einer Garage, sammelte
nach der Ernte die verbliebenen Weizenkörner von den Feldern,
um nicht zu verhungern. Mein Vater, inzwischen bereits 18 Jahre
alt, malte damals den Bauern ländliche Szenen an die Hauswände
und kehrte dafür mit einem Sack Mehl auf dem Esel zurück.
Diese Malereien haben bis vor wenigen Jahren noch existiert.
Ein weitschichtig Verwandter war dort und hat uns die Fotos
gebracht. Nordgriechenland war eine Partisanenhochburg und
dementsprechend haben die Nazis dort gewütet. Ganze Dörfer
wurden niedergebrannt und die Einwohner erschossen, einfach
so, weil ein Partisane aus diesem Dorf stammte. Die Verbrechen
der Nazis in dieser Zeit sind gut aufgearbeitet, darum möchte ich
darüber nicht weiter berichten. Meine jüngere Tante Fifi erzählt
immer wieder, daß sie einmal als kleines Kind ein Stück Brot
gegessen habe, welches eigentlich die Brotration ihrer Mutter war
und diese dann für den Rest des Tages nicht zu essen hatte. Bis
heute quält sie diese Geschichte. Sie kann es sich nicht verzeihen.
Eine Zeitlang lebten sie in einer Flüchtlingsunterkunft, bis
endlich der Bruder meiner Großmutter, Onkel Miltiades, erschien,
der damals in Prag lebte, und in Ptolemaida ein Zimmer für seine