OCR
vor der Einwanderung der spanischen Juden die größte jüdische Bevölkerung in der Levante bildeten. Sie sprachen Griechisch, waren zu einem beträchtlichen Teil schon in Judäa und vor der Zeitenwende hellenisiert worden, lebten in einer Symbiose mit anderen Hellenophonen und besiedelten auch das griechische Umfeld in Süditalien. Wie bei anderen Gruppen waren es weniger die Bauern, die migrierten, sondern Händler und Produzenten. Das erweckte wie bei den Phöniziern das Stereotyp von den Juden als einer rein kommerziellen Ethnie. Bereits im Frühmittelalter dominierten romaniotische Juden, die sogenannten Radhaniten, den Handel zwischen Okzident und Orient, zwischen Karolingischem Reich und Byzanz und Persien. Der jüdische Chronist Benjamin von Tudela hielt im 12. Jahrhundert die Wlachen des Pindos, die Thessalien heimsuchten, für Juden und führte dafür eine interessantes Argument an: Wie könnte es anders sein, da sie bei ihren Raubzügen die thessalischen Juden verschonten, aber alle anderen ausraubten - ein Indiz en passant für eine starke Präsenz von Juden in den Städten Thessaliens. Flüchtlingen der westeuropäischen Judenverfolgungen boten die jüdischen Gemeinden Mazedoniens Obdach. Ein solcher war Leon Meung, der zum Christentum konvertierte und 1120 Erzbischof von Ohrid wurde. Als auch das ansonsten recht tolerante Königreich Ungarn seine Juden im 14. Jahrhundert vertrieb, fanden die meisten von ihnen in Mazedonien eine neue Heimat. Auf den lonischen Inseln, vor allem auf Korfu, florierte eine große Community romaniotischer Rückwanderer aus Apulien und Kalabrien, die ihren Beitrag zur italienisch-griechischen Symbiose der Insel leisteten. Als Venedig die Juden 1571, nach der Schlacht von Lepanto, aus ihrem Herrschaftsbereich gänzlich vertreiben wollte, machte es für Korfu eine Ausnahme. Denn die Juden hatten sich im Kampf gegen die Osmanen auf die Seite ihrer Mitinsulaner gestellt. So gut das Auskommen zwischen Griechen und Juden auf Korfu auch war, letztlich besaßen sie unter venezianischer Herrschaft kaum Rechte. In der Tat erwies sich ihre Situation im Reich des Sultans als weitaus günstiger. Beinahe alle bekannten jüdischen Gruppen, romaniotische Juden und aschkenasische Flüchtlinge der diversen Pogrome und Vertreibungen Mittel- und Westeuropas wurden ab 1492 durch die in Hinkunft bedeutendste Gruppe, die Sephardim aus Spanien (aber auch Portugal, Südfrankreich und Sizilien) aufgestockt. Antisemitismus in der islamischen Welt ist ein sehr komplexes und leider von ideologischen Verallgemeinerungen getrübtes Thema, das zwischen einer idealisierenden Aufwertung islamischer Domänen als Ziergarten der religiösen Toleranz bis zur Hypothese eines statischen und kontinuierlichen islamischen Antisemitismus oszilliert. Für das Osmanische Reich, stets pragmatisch und religiösem Fanatismus abhold, lässt sich sagen, dass Juden für die Periode des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit dort die besten Lebensbedingungen vorfanden. Der Rabbiner Isaak Zarfati hatte 1470 ein Rundschreiben auf Hebräisch an alle deutschsprachigen jüdischen Gemeinden gesandt, in dem er sie aufforderte, sich im Osmanischen Reich anzusiedeln. Am 2. Jänner 1492 kapitulierte das Königreich Granada vor der Armee des katholischen Königspaares Fernando V. und Isabella I. und somit das letzte muslimische Fürstentum auf der iberischen Halbinsel. Mit dem Alhambra-Edikt stellten die 58 ZWISCHENWELT neuen Machthaber die Muslime und Juden vor die Wahl, zu konvertieren oder zu emigrieren. Die Verfolgung der Juden, sowie der Conversos, die man auch Maranes nannte, dauerte bis 1513 an, was sich genau mit der Regierungszeit des osmanischen Sultans Bayezid I. deckte. Für ihn waren die iberischen Juden und der Braindrain, den manche christlichen Gelehrten und Fürsten bald bereuten, ein willkommenes Geschenk. Nirgendwo hätten sie eine großzügigere Aufnahme finden können als in der osmanischen Levante, wo sie die romaniotischen Juden und manche Nachkommen aschkenasischer Juden durch die neue Klasse einer Handelsbourgeoisie sowie Intellektueller, Ari Nazhas wissenschaftlich gebildeter Fachkräfte und Handwerker aller Art aufstockten. Für die Ökonomie der bloß in Militärtechnologie progressiven Hohen Pforte bedeutete diese Immigration eine ähnliche Belebung wie die der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten für Preußen und andere deutsche Fürstentümer. Als Dhimmi (Schutzbefohlene) waren Juden im Osmanischen Reich vor dem Gesetz ebenso benachteiligt wie die Christen. Spannungen bauten sich aber cher zwischen Christen und Juden auf, die im Ruf standen, von den Osmanen begünstigt zu werden. In Teilbereichen mochte dies auch gestimmt haben. Dass die urbanen Juden in Vierteln (Mahale) lebten, darf nicht dazu verleiten, westeuropäische Maßstäbe anzulegen. Es waren keine Ghettos, es herrschten keine Beschränkungen, Sperrstunden etc. vor. Die Juden konnten siedeln, wo immer sie wollten. Dass das alte osmanische Verbot, neue Kirchen oder Synagogen zu errichten, längst Makulatur war, beweist der Umstand, dass die Sepharden in den ersten 20 Jahren ihrer Ankunft in Saloniki 20 Synagogen eröffneten. Die meisten Sephardim siedelten sich in Istanbul und Saloniki (Salonica) an, das bald den Beinamen Neues Jerusalem führte. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts dominierte dort das jüdische Element, Ladino wurde zur dominanten Sprache. Erst ab der Einverleibung Salonikis in den Staat Griechenland 1912 verloren Juden sukzessive ihre Bevélkerungsmehrheit. Nicht übertrieben haben dürfte der maranische Dichter und Historiker Samuel Usque (1500-1555), als er resümierte: „Die Juden Europas und anderer Länder, verfolgt und vertrieben, flüchteten hierher, und die Stadt hat sie mit Liebe und Anteilnahme aufgenommen, als wäre sie Jerusalem, diese unsere alte und fromme Mutter.“ Auf dem gesamten Balkan, inner- und außerhalb des Osmanischen Reichs, fielen antijüdischer Rassismus oder Antisemitismus stets schwächer aus als im restlichen Europa oder fehlten völlig. Die Usurpation der kommerziellen Sphäre teilten Juden mit anderen ethnischen Gruppen: Armeniern, Wlachen, Arabern, Griechen. Und typische Vorurteile, welche im Westen den Juden entgegengebracht wurden, ließ man um 1800 eher den Griechen anengedeih. Trotzdem wurden sie 1821 südlich von Saloniki beinahe zur Gänze von griechischen Aufständischen ermordet oder versklavt. Obwohl es für die Opfer ein schwacher Trost sein mag, waren das keine programmatisch antisemitische, sondern cher „anti-urbane“ Pogrome. Städtischer Mittelstand und Patrizier, vor allem wenn sie keine Christen waren, wurden automatisch als Vertreter und Komplizen der osmanischen Ordnung angeschen, eine symbolische Markierung, um sich ihres Besitzes zu bemächtigen. Und sie waren nicht wehrhaft. Auf die griechischen Verhältnisse