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Anne Applebaums “Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen.” Anne Applebaums Buch ist spannend, voller kurioser, teilweise bekannter, aber dennoch unglaublicher Geschichten: Belege für die Verlockung des Autoritären, nur keine rechte Antwort auf die Frage des Untertitels “Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist”. Der englische Titel Twilight of Democracy. The Seductive Lure of Authoritarianism ist da vielleicht treffender. Seit knapp zwanzig Jahren hat das Thema Einzug in die Politikwissenschaft gehalten. Von Colin Crouch bis Yascha Mounk. Anne Applebaums Buch ist jedoch kein wissenschaftliches Werk. Sie schreibt, dass sie weder eine große Theorie noch eine allgemeingültige Lösung anbietet, wohl aber einen roten Faden in der Geschichte. Aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit und ihrer häufigen Teilnahme an Partys einer gewissen elitären gesellschaftlichen Gruppe sind ihre Beispiele so detailreich, was Lügen, Verschwörung und Korruption betrifft, dass auch gut Informierte erschauern. Sie beschreibt die neue Generation von dercs, wie Julien Benda die autoritären Eliten schon 1927 nannte. Applebaum ist der Meinung, dass die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts keine Massenbewegungen brauchen. Sie brauchen ihre vers, doch sie zwingen sie nicht, zu behaupten, dass schwarz weiß und Krieg Frieden wäre o.A. Statt der “großen Lüge” verwenden sie die “mittelgroße Lüge”, wie Timothy Snyder es in einem Gespräch mit ihr nannte (S. 44). Um die “mittelgroße Lüge” geht es in Applebaums Buch. Da sie seit 1988 mit Unterbrechungen, seit 1999 ständig in Polen lebt und mit dem polnischen Ex-Außenminister Radek Sikotski verheiratet ist, ist es nicht verwunderlich, dass sie ihre Beispiele mit solchen aus Polen beginnt. Erinnern wir uns an den Flugzeugabsturz der Präsidentenmaschine bei Smolensk, in der Lech Kaczyfiski auf dem Weg zur Gedenkveranstaltung für das Massaker von Katyfi war. Aus den Medien erfuhren wit, dass dichter Nebel geherrscht, Kaczyfiski aber Druck auf die Piloten ausgeübt hatte und dass sich nach eingehender Untersuchung herausstellte, dass die Maschine vollkommen in Ordnung gewesen war. Später erfuhren wir auch, dass sein Zwillingsbruder Jarostaw ein russisches Komplott hinter dem Absturz vermutete. Applebaum erzählt die Geschichte detailliert: Lech rief Jarostaw an. Daraufhin übten Lechs Berater Druck auf die Piloten aus, gingen im Cockpit ein und aus, was verboten ist. Schließlich setzte sich der Chef der Luftstreitkräfte zu den Piloten und sagte: “Ihr schafft das, traut euch!”. Anfangs schien Jarostaw geglaubt zu haben, dass die Maschine nicht in Ordnung gewesen und die Regierung daran schuld gewesen wäre, weil sie keine „Sterbehilfe“ Auf eine Absurdität stößt der Nachdenkende rasch. Eine ehrwürdige Tradition hat der Selbstmord, man denke nur an Sokrates und Seneca, denen die Selbsttötung aller96 ZWISCHENWELT neuen Flugzeuge angeschafft hatte. Die Ermittlungen ergaben aber keinen Defekt am Flugzeug, was Kaczyfiski veranlasste, seine Verschwörungstheorien auszubauen. Mal behauptete er, die russische Regierung, mal die damalige Regierungspartei sei am Tod seines Bruders schuld. Einmal schrie er im Parlament: “Ihr habt ihn vernichtet, ihr habt ihn getötet, ihr Mistkerle!”. Seinem langjährigen Freund, Antoni Macierewicz, — einem Antikommunisten und Antisemiten, der u.a. behauptete, die Protokolle der Weisen von Zion waren ein vertrauenswürdiges historisches Dokument — vertraute er die Verbreitung der Verschwörungstheorien an. Macierewicz wurde schließlich in der PiS-Regierung Verteidigungsminister und begann die Smolensk-Lüge zu institutionalisieren.Es gab einen neuen Untersuchungsausschuss mit Pseudoexperten. Natürlich wurde nie eine alternative Erklärung für den Absturz gefunden. Die Smolensk-Lüge bereitete den moralischen Boden für immer neue Lügen. Den Rechtsextremen war sie eine ideologische Rechtfertigung für alle Vergehen. “Welche Fehler die Partei auch machen, welche Gesetze sie auch brechen mochte — wenigstens hatte sie die “Wahrheit’ über Smolensk endlich ans Licht gebracht.” (S. 50). Im Laufe der Zeit wurden unter der PiS-Regierung, wie bekannt, Richter, Moderatoren, Journalisten und Tausende Beamte entlassen. Ebenso wurden kulturelle Einrichtungen demontiert. Der Direktor des Nationalmuseums, ein international anerkannter Kurator, wurde entlassen. Der Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden — eine in Europa einmalige Einrichtung — wurde zum Entsetzen der Förderer ohne jede Erklärung beurlaubt. Usw. Das Gesetz, das die öffentliche Debatte über den Holocaust unterdrücken sollte, wurde zwar auf Druck der USA geändert, löste aber bei einigen die Überzeugung aus, polenfeindliche Kräfte hätten sich verschwoten, Polen statt Deutschland die Schuld an Auschwitz zu geben. Natürlich wurde auch Anne Applebaum nicht verschont. In den Medien wurde verbreitet, dass sie eine verdeckte jüdische Drahtzieherin einer internationalen Pressekampagne gegen Polen wäre. Aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich der Kuriosität halber hinzufügen, dass es seit meinem letzten Besuch in Polen 2019 inzwischen in fast jeder Stadt eine Ulica Kaczyfiskiego gibt und in Warschau das umstrittene Monument Lech Kaczyfiskis zu besichtigen ist: Kaczyfiski ziemlich viel gröBer als der reale, während die Namen der anderen Verunglückten (darunter Kaczyfikis Frau und hohe Regierungsbeamte) nur auf dem Sockel eingraviert sind. Applebaum erzahlt noch von einigen weiteren ungeheuerlichen Lügen, die in Ungarn, in Großbritannien, in Griechenland, in Brasilien, in Spanien usw. verbreitet werdings anbefohlen war. Freiheit verheißt der Selbstmord eigentlich nur in einer Extremsituation, in der nur die Wahl besteht, sich zu töten oder den Anordnungen der feindden. Einige kuriose Geschichten von Boris Johnson, den Applebaum offenbar recht gut kennt, will ich hier nicht vorenthalten: Johnson war Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph. Lustvoll und ganz bewusst erfand er irgendwelche Märchen, um die EU zu diskreditieren. Zum Beispiel lautete der Titel eines Artikels “Gefahr für das britische Frühstückswürstchen”. Er behauptete etwa auch dreist, dass die Eurokraten Doppeldeckerbusse oder Kartoffelchips mit Krabbencocktailgeschmack verbieten wollten. Er selbst lachte darüber, genoss die Wirkung seiner Artikel und brüstete sich: “Ich habe sozusagen Steine über die Gartenmauer geworfen, und dann vernahm ich dieses irrsinnige Klirren der Treibhausfenster drüben in England”, erzählte Johnson Jahre später. “Alles, was ich aus Brüssel geschrieben habe, hatte diese erstaunliche, explosive Wirkung auf die Tories, und das hat mir so ein komisches Gefühl von Macht vermittelt”. (S. 67£.). Applebaum gibt nicht nur den Lügen, den verdrehten Tatsachen, Wahlkampagnen und Meinungsmachern die Schuld an der Polarisierung der Gesellschaft, sondern auch dem Internet, das mithilfe der Algorithmen seine Nutzer radikalisiert. Klickt man eine Nachricht zu einem Thema an, folet ein Schweif ahnlicher Nachrichten, bis man schließlich auf den Seiten von Rechtsradikalen und gewalttätigen Fremdenhassern landen kann. Die Seiten machen süchtig, beeinflussen die Menschen und begünstigen Emotionen, vor allem Wut und Angst-was allerdings keine neue Erkenntnis ist. Applebaum weist auch noch auf andere problematische, aber bekannte Tatsachen hin, wie z.B. dass viele amerikanische Linksradikale wie Rechtsradikale offen für Gewalt und gegen Demokratie sind und dass viele denken, wenn alle korrupt sind und es schon immer waren, ist jedes Mittel recht, das zum Sieg führt (bezogen auf Trump). Usw. Auch das keine neuen Erkenntnisse. Sie erinnert an die Dreyfus-Affäre und kommt zu dem Schluss: “All diese Debatten, ob im Frankreich der 1890eroder im Polen der 1990er- Jahre, drehen sich im Kern um die Fragen, die auch im Mittelpunkt dieses Buches stehen: Wie definiert sich eine Nation? Wer definiert sie? Wer sind wir? Lange haben wir geglaubt, dass diese Fragen beantwortet seien — aber warum sollten sie das jemals sein?” (S 179). Wenn auch das Buch keine sensationellen neuen Erkenntnisse bietet, ist es dennoch wegen seiner vielen unbekannten und entlarvenden Details absolut lesenswert. Claudia Erdheim Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so popular geworden ist. München: Siedler 2021. € 22,lichen Macht zu unterwerfen. Die österreichische Widerstandskämpferin, die sich in Frankreich aus dem Fenster zu Tode stürzte, um ihre Genossen unter der Folter nicht