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nizität, Nation und Religion, wenn sie sich mit ‘Frauen’ beschäftigt, womit sie — in heutiger Lesart - als eine Pionierin des Intersektionalitäts-Ansatzes gelten kann. In die Figur Brigitte Fessel hat Isa Strasser nicht nur ihren eigenen Arbeitsplatz in der Profintern eingeschrieben, sondern auch ihre Berufsausbildung als „Kindergärtnerin“ (82), die aristokratische Herkunft, mit der sie als junges Mädchen gebrochen hatte (33) und ihre Sympathie mit der trotzkistischen Opposition, der sie sich erst nach einigem Zögern anschließt — sie ist voller Zweifel, ob es wirklich ihre eigene Entscheidung sei: „Immer war es in ihrem Leben so gewesen: ein Mann dachte vor und sie dachte nach. Sie war, wie jemand einmal gesagt hatte, eine gute Interpretin männlicher Ideen“ (120). Auch Isa Strasser schilderte die ersten Jahre ihrer Ehe als „Schule meines Mannes“, in der sie „marxistisches Gedankengut“ lernte.” Aber sie zeichnete die Figur Brigitte Fessel nicht nur selbstreflexiv sondern letztendlich auch überzeugt davon, dass sie, einerlei ob sie „sich ihre Meinung auch unter dem Einfluß dieses oder jenes ihr geistig überlegenen Mannes“ gebildet hat, die „innerlich selbständige, geistig unabhängige Frau“ (121) sei. Fessel überlebt in Strassers Roman mit ‘aufrechtem Gang’. Sie verliert ihren Arbeitsplatz in der Profintern, unterschreibt aber keine Treue-Erklarung für die KPDSU: „Ich habe das Theater nicht mitgemacht“ (186). Im Gegensatz zu ihrem alten ‘Genossen’ und Freund Peter Kruk. Als dieser sie 1930 in Moskau aufsucht, fungiert er, inzwischen GPU-Agent in Deutschland, als wohlhabender Kaufmann und vertritt zum Erstaunen Fessels die These, nur mit „Geld kann man reüssieren“ (187). Strasser zeichnete ihn mit dieser Entwicklung zwar als negativen Kontrapart zur standhaft gebliebenen Frau, aber nicht als glatten “Verräter”. Vielmehr komponierte sie reflexive Einbrüche, in denen er darüber sinniert, was sein Verrat an den alten revolutionären Idealen, mit ihm macht und lässt ihn ein eigenes Wort dafür erfinden: er sei „entselbstet“ (196). Brigitte Fessel hat nicht die Seiten gewechselt sondern sich von der Politik abgewendet, um zu überleben: „Ich bin völlig entpolitisiert“ (187). Entpolitisiert war Isa Strasser nie, wenn sie sich auch von parteipolitischem Engagement nach 1945 zurückzog. Sucht man eine Conclusio ihrer zu Papier gebrachten Erinnerungen und Reflexionen, so bietet sich das Gespräch zwischen Jekaterina Tscherkassowa und Marussja Gerassimowa, die ihr den Haushalt führt, am Ende des Romans an (206-210). Strasser setzte es in das Jahr 1935 also ins Jahr bevor die Schauprozesse begannen. Marussjas Mann, der prominente Trotzkist Professor Gerassimow wird aus dem Straflager entlassen, was bedeutet, dass sie nicht länger für Jekaterina arbeiten kann, da diese von der Nähe des trotzkistischen Ehemannes ihrer Haushälterin kompromittiert und ihre Karriere beendet sein würde. In der längeren Auseinandersetzung darüber ergreift die bisher politisch indifferente Marussja klar die Position des Widerstandes, es sei „menschenunwürdig [...] sich nicht zu wehren, wie die Käfer....“, worauf Jekaterina heftig widerspricht, „sich anzupassen ist das einzig Vernünftigste. Man muss es tun, wenn man am Leben bleiben will“. Ähnlich wie im Fall von Peter Kruk wird Jekaterina Tscherkassowa nicht als unsympathische Opportunistin gezeichnet, sondern werden ihre Beweggründe nachvollziehbar dargestellt. Diese Haltung Isa Strassers, die erlebten Ambivalenzen während ihrer Zeit in der Sowjetunion literarisch zu bändigen, indem sie Verständnis für die vermeintliche ‘Gegenseite’ zeigte, zeichnen den Roman aus. Es ist eine Literatur des Alltäglichen in der Transformationsphase hin zur Diktatur. Mit den Worten „Das riecht nach Freud“, kommentiert Brigitte Fessel das Geständnis Kruks nach seinem (vorläufigen) Parteiausschluss, eine „Mutter“ verloren zu haben (123). Die Strassers waren mit den psychoanalytischen Auseinandersetzungen um Gelingen und Misslingen von Revolution in den 1920er Jahren vertraut.'* Was Josef letztendlich in die Depression trieb, suchte Isa zu verstehen. Nachvollziehbar gestaltete sie die Beweggründe für die inhaltlichen Positionierungen, Haltungen aber auch Meinungsänderungen ihrer Romanfiguren. Gregorij Pachnin, genannt Grischa, sagt sich am achten Tag seiner Verhöre von Trotzki los und gelobt der Stalin-Partei „bedingungslosen Gehorsam“. Zurück in der Zelle überkommt ihn eine „Seligkeit“, „er hatte geirrt, gefehlt, gestanden und bereut“, die „Unterwerfung war süß, die völlige, vorbehaltlose Selbstaufgabe ein Genuß“ — genau wie damals, als er, noch ein Bub, dem Priester seine Sünden gebeichtet hatte (157). Die Erkenntnis, dass die (irrationale) Kraft des Religiösen das Unterfutter für die Massenbasis autoritärer Ideen, Parteien oder Regime bildet”, reifte in Isa Strasser in den folgenden Jahrzehnten: „Die Wahrheit gibt es nicht.“ (180). 1927 kehrten die Strassers ebenso wie ihre Kinder nach Wien zurück, Josef wurde wieder Chefredakteur der „Roten Fahne“, allerdings nicht lange. Es war ihm unmöglich, die Linie der Kommunistischen Internationale — Sozialfaschismustheorie, die die Sozialdemokratie zum politischen Hauptfeind stilisiert — in befürwortende Leitartikel zu gießen. Und Isa Strasser wurde 1929 wegen „Trotzkismus-Solidarisierung“ aus der KPÖ ausgeschlossen. Danach war sie Teil der „Innerparteilichen Gruppe“, zu der auch Raissa Adler, die Frau des Individualpsychologen Alfred Adler zählte. Ende 1930 verabschiedete sich Isa Strasser von dem „hoffnungslosen Sektiererzirkel“, wie sie an Leo Trotzki schrieb. Ihre Korrespondenz mit ihm — die Strassers und die Trotzkis kannten sich seit der Zeit vor dem I. Weltkrieg — zeugt von ihren eigenständigen Gedanken, ihrer Kritik an einzelnen Positionen des ‘Alten’ aber auch von der Verzweiflung über die Situation ihres Mannes, für den sie bei Trotzki heimlich um etwaige Verdienstmöglichkeiten anfragte.' Gerade als Josef Strasser sich psychisch stabilisiert zu haben schien und wieder begann Artikel zu schreiben, starb er mit 65 Jahren im Jahre 1935 an Leukämie. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten blieb Isa Strasser in Wien, sie absolvierte eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und kümmerte sich um in sogenannten ‘Sammelwohnungen’ festgehaltene ältere Sozialdemokratinnen jüdischer Herkunft. Nach der Befreiung 1945 suchte sie in etlichen Zeitungsartikeln vor allem in der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ Zeugnis über den Alltag im NS-Staat abzulegen und betätigte sich vorwiegend künstlerisch, studierte Klavier, begann zu malen, schrieb Gedichte. Ihr Roman Land ohne Schlaf ging nicht so leicht von der Hand. „Ich brauchte Zeit, um Abstand zum Vergangenen zu gewinnen, die Scheuklappen der Parteilichkeit zu verlieren, die Verengung des Blickfeldes durch die Doktrin zu überwinden, ich brauchte Zeit, um Distanz zu finden zu mir selbst, dem Menschen, der ich einmal war.“ '? Anmerkungen 1 Gabriella Hauch: „Welcher Weg ist einzuschlagen...?“ Spurensuche nach Isa Strasser, geb. von Schwartzkoppen (1891-1970), in: Lucile Dreidemy (Hg.): Bananen, CocaCola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. I, Wien/Köln/Weimar 2015, 137-149. September 2021 15