Przemysl gestern und heute
Was blieb von der einstigen galizischen Stadt am San?
Eine typisch galizische Stadt war Przemysl (Prömsel), eine der
ältesten Städte Polens. Sie liegt am äußersten östlichen Rand des
polnischen Verwaltungskreises Woiwodschaft Karpatenvorland.
Wie ein Vorbote auf die heutige Westukraine wirkt die kleine
Stadt, die sich den Hügel hinaufzieht, nahe an der Grenze zum
Nachbarland. Unten fließt träge und trüb der San. Der Fluss
teilt die Stadt in zwei Hälften. Östlich des Sans erstreckt sich
das historische Stadtzentrum den Hügel der Vorkarpaten hin¬
auf, jenseits des Flusses liegt die Nache Vorstadt. Nach dem Ein¬
marsch Russlands sowie der deutschen Truppen im Jahr 1939
erfuhr die Stadt neben der geographischen auch eine politische
Teilung. Gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt verlief die Grenze zwi¬
schen Russland und der von Hitler-Deutschland okkupierten Re¬
gion genau in der Mitte des Flusses. Das jüdische Ghetto lag auf
der russischen Seite, bis die Nationalsozialisten im August 1941
in Russland einmarschierten und so auch den Ostteil der Stadt
einnahmen und die dort verbliebenen 17.000 Juden im Wald bei
Belzec erschossen, oder in Vernichtungslager brachten. Nur 500
Juden der Stadt sollten den Nationalsozialismus in Verstecken
überleben. Viele von ihnen, Frauen und Kinder, wurden in einem
Schulhof mitten im Stadtzentrum erschossen. Eine Gedenktafel
erinnert daran.
Wir gehen den Fluss entlang in das Stadtzentrum. Neben dem
Hotel liegt einer der vielen Betonbunker, die später die Sowjets
errichten ließen. Eine Gruppe Erwachsener und Kinder tummelt
sich im und vor dem Bunker, wo sie ein Lagerfeuer entzündet
haben. Die Feuchtigkeit, die vom San aufsteigt vermischt sich
mit der nasskalten Mailuft. Der Alte Marktplatz erhielt seine
heutige abschüssige Form, weil nach dem zweiten Weltkrieg die
vordere Häuserreihe geschleift wurde. Die Häuserreihe hinter
dem abschüssigen Marktplatz, dem sog. Rynek, zeigt sich frisch
herausgeputzt. Gleich dahinter die vielen katholischen Kirchen,
die sich von Hügelstufe zu Hügelstufe imposant übereinander
auftürmen. Auf jeder Anhöhe thront eine weitere Kirche, stellt
sich demonstrativ in den Vordergrund: die barocke Maria Mag¬
dalena Kirche der Franziskaner gleich an der Ecke hinter dem
Rynek, gefolgt von der griechisch-katholischen Kathedrale dicht
dahinter. Nur eine weitere Geländestufe höher steht die PrzemyS¬
ler Kathedrale. Es besteht kein Zweifel, dass hier die katholische
Kirche das Zepter schwingt. Przemysl ist seit 1375 römisch-ka¬
tholisches Bistum. Papst Johannes Paul II erhob die Stadt 1992
zum Erzbistum. Zwei Kathedralen, eine römisch-katholische
und eine griechisch-orthodoxe, vier weitere Kirchen und drei
Klöster verteilen sich im Przemysler Stadtzentrum. Konfliktfrei
ist die Glaubensfrage auch heute nicht.
Und die Synagogen? In Przemysl betrug der jüdische Bevölke¬
rungsanteil Anfang des 20. Jhd. rund dreißig Prozent. Während
der Habsburgischen Regierungszeit war die jüdische Bevölkerung
stark angewachsen. Heute gibt es keine aktive jüdische Gemeinde
mehr. Mehr als 20.000 Juden aus Przemysl wurden von den Nati¬
onalsozialisten ermordet und viele von ihnen von der sowjetischen
Armee nach Sibirien deportiert.
Auf der Westseite des Sans befand sich die Alte Synagoge. Und
am östlichen Ufer des Sans, an der Jagiellonska Straße, stand der
jüdische Tempel. Beide Synagogen wurden 1939 von den Natio¬
nalsozialisten niedergebrannt und die Reste 1941 ganz abgetragen.
Die sog. Neue Synagoge (die Mojzesz Scheinbach Synagoge in der
Juliusz Stowacki-Straße, erbaut 1910), die während der kommu¬
nistischen Ära für einige Jahrzehnte als städtische Bibliothek zwe¬
ckentfremdet wurde, steht noch, aber sie ist im Begriff zur Ruine zu
werden. Die Nationalsozialisten hatten die Synagoge als Pferdestall
benutzt. Sie wurde 2013 an die jüdische Gemeinde restituiert, aber
es ist niemand mehr da, der die Synagoge beleben könnte. Auch die
armenische Kirche wurde einem anderen Zweck zugeführt.
Die angrenzenden Wohnhäuser muten genauso ruinös an, wie
die Scheinbach Synagoge. Da und dort wurden Fenster oder eine
Tür erneuert, aber an den trostlosen Fassaden bröckelt der Putz,
Regenrohre rosten, Gesimse, die ursprünglich das Fassadenbild
auflockerten, sind abgebrochen. Mit dem Grau des Himmels
verschmilzt das Stadtbild an diesem kalten, feuchten Maitag zu
einer tristen Einheit. Przemysls Straßenzüge und Hausfassaden
haben definitiv schon bessere Tage erlebt, auch sonnigere, bun¬
tere. Von der einstigen ethnischen Vielfalt ist in der südöstlichs¬
ten Ecke Polens nichts mehr vorhanden. Ein scheuer, zierlicher
Mann, auch er ganz in Grau gekleidet, führt uns in das Haus
gegenüber, in dem einst ein Rabbiner wohnte, früher bekannt
als Passage Kleinow. Er war schon mehrmals an der Straße an
uns vorbeigelaufen, schließlich winkte er uns zu sich herüber, um
uns Zutritt zu gewähren. Schön das Entre& mit einem aufwendi¬
gen Keramikfries und einem Stiegenaufgang im Young Poland
Stil (Mloda Polska), der polnischen Variante des Jugendstils. Die
Scheinbach Synagoge wurde ebenfalls im Young Poland Stil er¬
richtet. Brandstätter & Margulies steht auf dem Schild, unterhalb
der Keramikbordüre mit Blumenornamenten. Die Stadt kannte
einst Wohlstand und Farbe, dieses schöne Entreé in der ehemali¬
gen Passage Kleinow zeugt davon. Im Erdgeschoß an der Ecke ist
heute eine Apotheke untergebracht.
Durch die strategische Lage im Karpatenvorland, den Bau der rie¬
sigen Festungsanlage und der Anbindung an das Habsburgische
Bahnnetz, hatte Przemysl vor allem um die vorige Jahrhundert¬
wende einen gewaltigen Aufschwung erlebt gehabt. Krankenhäu¬
ser wurden gebaut, Gymnasien errichtet, imposante Villen, Re¬
präsentationsbauten und kleine Industriebetriebe entstanden in
dieser Zeit. Die Einwohnerzahl war enorm gestiegen, in den Gas¬
sen hörte man Polnisch, Deutsch, Jiddisch, Ruthenisch, Russisch
und Armenisch. Die Ansiedelung österreichischer Zuwanderer
brachte kulturelle Vielfalt in die Stadt, in den Villen entstanden
Salons, deutschsprachige Schulen wurden eröffnet, eine beschei¬
dene Literaturszene entwickelte sich. Helene Deutsch (geborene
Rosenbach) wurde hier geboren, gründete gemeinsam mit dem
sozialistischen Politiker Herman Lieberman eine Organisation
für Arbeiterinnen, bevor sie zum Medizinstudium nach Wien
ging und als Psychoanalytikerin international bekannt wurde.
Joseph Roths fiktives Hotel, das Hotel Savoy', könnte genau hier
in einer Grenzstadt wie Przemysl gestanden haben, die geschla¬