Die ukrainisch-stammige Bevölkerung in Polen wird auf rund
500.000 geschätzt, noch heute klagen diese über Repressalien.
Das Trauma, ausgelöst durch die gegenseitigen Denunziatio¬
nen und die daraus resultierenden Deportationen und Massa¬
ker während des Zweiten Weltkriegs, hat sich auf beiden Seiten
noch nicht gelegt. Auch jetzt klagt die ukrainische Minderheit
vermehrt über fremdenfeindliche Übergriffe. Rund dreitausend
Polen mit ukrainischen Wurzeln leben heute in der Stadt. Stark
ausgeprägte nationalistische Tendenzen sind in Polen seit einigen
Jahren zu beobachten, aber auch die ukrainische Minderheit zeigt
sich in der Abwehrhaltung auf ihre Weise nationalistisch. 2016
etwa gab es Übergriffe während einer Prozession zu Ehren der
gefallenen ukrainischen Soldaten in der Auseinandersetzung mit
Putins partiellen Einmarsch in der Ukraine. Römisch-katholische
Polen antworteten mit einem Gegenmarsch und einem eigens
produzierten Kurzfilm von Miroslaw Majkowski Das Massaker
von Wolhynien der an das Morden der ukrainischen Nationalisten
in den Jahren 1943-1945 erinnern soll. Aktionen wie diese tragen
nicht zum gegenseitigen Verständnis bei und so erhitzt nun selbst
das Tragen der ukrainischen Vyshyvanka-Bluse die Gemüter der
polnisch-stämmigen Bevölkerung. Die Vyshyvanka-Bluse ist eine
weiße Leinenbluse mit weiten Puffärmeln und folkloristischem
Stickmuster. Im Wiener Volkskundemuseum ist eine Vielzahl an
diesen ruthenischen Stickmustern konserviert worden.
Charakteristisch für eine Reise in den östlichen europäischen Re¬
gionen sind die vielen Unverhältnismäßigkeiten, die uns begeg¬
nen. Das Irrationale sorgt verlässlich für Überraschungen, aber
nur solange, bis wir uns von gewohnten Mechanismen lösen und
uns dem Determinismus ergeben: Irgendwie werden wir voran¬
kommen. Irgendwie werden wir das Haus, die Straße, den Zug,
finden. Es ist unmöglich, eine Fahrt genau vorauszuplanen. Am
besten, man geht eine Symbiose ein mit den regionalen Beson¬
derheiten. Verständigungsschwierigkeiten und infrastrukturelle
Eigenheiten evozieren diese besondere Form der Entschleuni¬
gung. Die Ränder des Ostens schaffen das in wenigen Tagen. Es
ist wie eine Gratisbeigabe, die ich nicht erwartet habe. Ich nehme
den Umstand dankbar entgegen.
Weit entfernt hat sich die Alltagsmaschinerie. Das Irrationale
wird genauso ein konstanter Begleiter, wie der Tempowechsel.
Wir glauben uns an einen Ort, an eine Zeit zurückversetzt, die
lange schon der Vergangenheit angehören muss, doch die tat¬
sächliche Distanz zu Wien beträgt nur achthundert Kilometer.
Es mag auch an den zahlreichen und wunderbaren literarischen
Werken vergangener Autorinnen und Autoren liegen, die ich im
Zuge der Recherchen gelesen hatte: Bukolisches und Phantasti¬
sches verschiedentlich gemischt.
Am Przemysler Busbahnhof frage ich nach dem Reisebus, der
uns nach Lviv bringen soll. Welcher Bussteig ist der richtige? Von
zwölf Befragten viele unterschiedliche Antworten. Nur zwei von
ihnen weisen mit ausladender Geste den Weg zu einer zweihun¬
dert Meter entfernten, beinahe unkenntlichen Bushaltestelle,
weit abseits des Busterminals. Przstyna Wagabunda, heißt das
Zauberwort, das uns zwei Mal genannt wird. In der Bar Non
Stop wärmen wir uns auf. Przstyna Wagabunda. Die Haltestelle
Wagabunda klingt vielversprechend. Wir haben keine Eile, bis
zur planmäßigen Abfahrt nach Lemberg bleibt noch Zeit. Die
vormittägliche Kälte hat sich bereits in den Knochen festgesetzt.
Der Küchendunst schwebt über der kleinen Gaststube, 24 Stun¬
den am Tag. Der Geruch der Pirogi vom Vortag vermischt sich
mit dem Dunst von Frühstücksspeck und Haferbrei. Nach einem
heißen Tee steigt auch der Optimismus und entgegen jeder ge¬
wohnten Logik vertraue ich auf die beiden Auskünfte, die sich
gänzlich von allen anderen Anweisungen unterschieden: für die
Przstyna Wagabunda jene unkenntliche Busnische vor dem Poli¬
zeidepartement mit seinem kleinen Gefängnis.
Wir machen uns auf den Weg und tatsächlich, der Bus kommt.
Die Fahrt endet nach wenigen Kilometern am geschlossenen
Balken der EU-Außengrenze. Auf einem Parkplatz links der
Fahrbahn werden Kisten und Kartons aus Kombis und Klein¬
bussen geladen. Der von Maschendrahtzaun umgebene Platz ist
nicht asphaltiert. Eine kleine Menschenmenge bückt sich über
den Kofferraum eines Kombis. Mikrogeschäfte auf vier Rädern.
Hier wird Schmuggelware umgewälzt. Welche Waren wer¬
den verkauft? Nur wenige Meter weiter hebt sich die polnische
Grenzstation wie ein unüberwindbarer Riegel vom schlammigen
Umschlagplatz ab. Flaschen werden vom Kofferraum eines Wa¬
gens in andere Autos getragen. Geschickt weichen die Männer
den tiefen Regenpfützen aus. Es wird wenig gesprochen. Jeder
Handgriff erfolgt in gebückter Haltung. Die gebeugten Rücken
über den Kofferräumen, die gesenkten Häupter beim Tragen der
Kartons. Alle Blicke wenden sich dem gestampften Boden zu.
Niemand gestikuliert, die Gesichter sind ernst, finster. Es ist spä¬
ter Vormittag, aber der Himmel gleicht einer fortgeschrittenen
Dämmerung. Wir lachen dem Vodka zu, sitzen im warmen Bus
und für einige Momente erschleicht uns das Gefühl, vielleicht
hier an dieser Grenze unfreiwillig hängenzubleiben.
An der EU-Außengrenze Medyka wird rigoros kontrolliert, auch
wenn man die EU-Region Richtung Osten verlässt. Mein Be¬
gleiter wird nervös. Die letzte Seite seines Passes ist zerfetzt. Er
hatte ein Abziehbild auf die letzte Seite geklebt gehabt und vor
der Reise entfernen wollen. Die letzte Passseite ist nur noch in
ausgefransten Ansätzen vorhanden. Eigentlich ist ein Reisepass
in diesem Zustand ungültig. Und hier erweist sich die Unver¬
hältnismäßigkeit, das Irrationale als Glücksfall, denn die Grenz¬
beamtin, die mit furchteinflößender Miene nach der zerrissenen
Passseite fragt, zeigt sich letztlich gnädig, drückt den Stempel auf
die vorletzte Seite. Immer mehr gleicht mein Begleiter der einen
oder anderen Figur aus Joseph Roths Hotel Savoy.
Die Grenzabfertigung auf beiden Seiten dauert jeweils mehr als
zwei Stunden, dann geht es endlich weiter auf der neu asphal¬
tierten Straße nach Lwiw, Lwow, Lemberg, Leopolis, Lviv, Lvov.
1 Joseph Roth, Hotel Savoy (erstmals erschienen 1924 im Berliner Ver¬
lag Die Schmiede)
Regina Hilber, geb. 1970, lebt als Lyrikerin und Essayistin in
Wien. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen
Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist auch als Herausgebe¬
rin und Publizistin tätig. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow!
Brandenburg. Sie betreibt den Weblog www.dielavoir.com. Buch¬
publikationen zuletzt: Palas ( 2018); Landaufnahmen (Limbus
Verlag 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische
Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition
Art Science) heraus.