OCR
(...) 20 Jahre später lernte ich in Gyömörey den ersten Wirklichkeiisfanatiker unter den Philhellenen kennen, der mir jenes Unleserliche gedeutet hat. G. malt und misst die Schöne in all ihrer Eigenart und Herrlichkeit, die christliche Erbin der Antike, das griechische Rom, die geheime Hülse des griechischen Charakters bis auf den heutigen Tag und dann zitiert er ihren schauerlichen Untergang. (...)'® Literarisch hat Michael Guttenbrunner das Beziehungsgeflecht zu seinen griechischen „Brüdern“ also nie aufgelöst. Noch ein Jahr vor seinem Tod, nach Erhalt der Trauerbotschaft des verstorbenen Dimos, erinnerte er sich emphatisch und sehnsuchtsvoll jener Eindrücke, die ihn hier so stark berührten. Dimos ist tot. Mit dieser Trauerbotschaft, die Nikos mir schickt, tritt die einzige Nacht wieder an mich heran, die wir, zusammen mit Gyömörey, in der Heimat des Dimos, aufeinem Dorfin Ätolien verbrachten. Jene Nacht war ein hohes Haupt und trug die Milchstrafe im Haar. Wir lagen vor dem Dorf auf einem dürren Hügel. Die Luft war Weihrauch. Sie roch nach Heu, Dung, Mastix und Thymian, und nach dem Schweiß der Tragtiere, die unsichtbar neben uns unter Bäumen standen, schnaubend, sich schüttelten im Schlaf und mit den Ketten rauschten. Im weiten Umkreis bellten Hunde. Und über allem herrschte die Stille, die ein leises Knistern von den Sternen ist. Unser langer, viermal viereckiger Diskurs, fand unter solchen Erscheinungen statt, würdig der ernsten griechischen Nacht, die keinen Mohn in unsere Schalen träufte. Juni 2003 Vinzenz Jobst, geboren 1949 in Klagenfurt. Er erlernte den Beruf des Schriftsetzers. In Folge war er Betriebsratsvorsitzender und leitender Sekretär der AK in Kärnten. Er gründete das Archiv der Kärntner Arbeiterbewegung und ist Gründungsvorsitzender der Erinnerungsplattform Memorial Kärnten-Koroska (2000-2010). Er war zudem Landesbildungsvorsitzender des ÖGB. Er publiziert zur Sozial- und Regionalgeschichte Kärntens, Biografien, Anthologien, Essays, Abhandlungen zur NS-Verfolgung und Rehabilitierung von NS-Opfern als Beiträge zur Gedenk- und Erinnerungskultur. 2012 erschien „Guttenbrunner. Rebellion und Poesie“. Michael Guttenbrunner Cyclame mou, Cyclame mou Das Theodorakis-Konzert musst du dir etwa so vorstellen: Ein Pianist, drei Buzuki-Spieler (das sind griechische Mandolinen), zwei Gitarre-Spieler, zwei Trommler (einer davon mit zwei Trommeln und Tschinellen), besetzen die Bühne — die Instrumente sind mit elektrischen Batterien verbunden, so dass ihre Tonstärke, vom leisesten Summen bis zum Orkan gesteigert werden kann. Mikis Theodorakis steigt herauf, betritt mit seinen Sängern die Bühne. Er ist ein Riese, über zwei Meter groß; schlank, in einem grauen Blusenrock (dem chinesischen ähnlich), eine kurze, breite Mähne wollig verfilztes Haar umrahmt breit Gesicht und Kopf. Die eine Sängerin, größer an Gestalt und Stimme, ist Maria Faranduri, die andere, weniger gewaltig, mehr braun als schwarz, von hellerer Haut, hübsch, heißt Manou. Der Sänger, mit einer Stimme wie ein Büffel und röhrender Anmerkungen 1 Kärnten im Wort. Aus der Dichtung eines halben Jahrhunderts. Red. Erich Nußbaumer. Klagenfurt 1971. S. 411. 2 _ https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/ landung-auf-kreta-1941.html. 3 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagenfurt 2012. S. 148. 4 Diess., S. 111-112. 5 Michael Guttenbrunner, Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht. Gesammelte Gedichte. Locker. Wien 2020. S. 410. 6 Kärntner Landesarchiv Klagenfurt, Bestand Michael Guttenbrunner. Gutachten Univ.-Prof. Dr. Holzer, 1949. 7 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagenfurt 2012. S. 53-57. 8 Michael Guttenbrunner, Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht. Gesammelte Gedichte. Locker. Wien 2020. S. 287. 9 Karnten im Wort. Aus der Dichtung eines halben Jahrhunderts. Red. Erich Nußbaumer. Klagenfurt 1971. S. 410. 10 Kärntner Landesarchiv Klagenfurt, Bestand Michael Guttenbrunner. — Bezeichnend auch seine Aussage: „(...) Ich habe Griechenland gesehen, das schönste Land, und Kreta, die schönste Insel. Meine Sehnsucht dorthin ist grenzenlos. (...)“ / Pg. 213/GA S.14. 11 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagenfurt 2012. S. 47-48. 12 Franz Richard Reiter (Hrsg.), Wer war Leopold Ungar? Ephelant. Wien 1994. S. 83 — 85. 13 Online-Compedium der deutsch-griechischen Verflechtungen. https:// comdeg.eu/artikel/95562/ s.a.: den Beitrag von Marcus Patka, Lorenz Gyömörey oder der „Griechen-Maniak“ als Eremit, in der vorliegenden Ausgabe der „Zwischenwelt“. 14 Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege. Löcker. Wien 2018. S. 169. 15 Michael Guttenbrunner, Vom Tal bis an die Gletscherwand. Reden und Aufsätze. Löcker. Wien 1999. S. 190-195. 16 Hagen Fleischer, Griechenland. In: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München: Oldenbourg 1991. S. 241-274. 17 Hagen Fleischer, Griechenland — Der Krieg geht weiter. In: Ulrich Herbert / Axel Schildt (Hısgg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944-1948. Essen: Klartext 1998. S. 168-206. 18 Michael Guttenbrunner, Buchbesprechung: Lorenz Gyömörey, Griechenland. Zsolnay-Verlag 1970. Manuskript-Abschrift aus dem Bestand von Marcus Patka. 19 Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege. Löcker. Wien 2018. S. 440. Literaturempfehlung Michael Guttenbrunner, Werkausgabe, Band 1: Im Machtgehege; Band 2: Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht - Gesammelte Gedichte. Löcker. Wien 2018-2020. Hirsch, ist gleichfalls ein langer Kerl. Theodorakis betritt die Bühne mit langen, eiligen und zugleich schleifenden Tritten, dreht sich sofort seinem Orchester zu, hebt die Arme und entfesselt mit dem ersten Takt das bekannte schwirrende und marschierende Tongewühl seiner Präludien, es folgen Marschrhythmen und Tanzrhythmen nach jedem Maß und Gewicht, in jedem Verzögerungs- oder Beschleunigungsgrad gravierend, in jedem Übergang von leise zu laut und umgekehrt faszinierend, schließlich Donnergepolter und „Kanonengebrüll“. Das Orchester summt, säuselt, flüstert, klingelt, läutet, schrammelt, trommelt, pfeift, rauscht, klatscht, prasselt, heult, brüllt, donnert und knallt; es steigert sich zum Orkan auf dem Meere; es spricht mit Entzücken von einer kleinen Blume; es sprüht vom Sonnenstrahl in goldenen Funken; du siehst „die Heiterkeit des goldnen Lichtes“, und dazu Musik, die den Mord umschallt. (Nur im Hinblick auf die Sänger wurde das Orchester vielfach als zu laut empfunden.) Zuerst sang die Manou, mit der bekannten Stimme. (oder irre ich mich?) — mit einer Stimme, die zugleich voll und hohl, geSeptember 2021 59