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Editorial

Erinnerung an Ruth Klügers „Katastrophen“

„Gibt es ein ‚Judenproblem‘ in der deutschen Nachkriegslitera¬
tur?“, fragt Ruth Klüger in ihrem 1994 erschienenen Essay-Band
Katastrophen. Über deutsche Literatur. Sie konstatiert in der Folge
eine „Mischung von brutaler Ablehnung und sentimentaler Ein¬
fühlung“ in der „Behandlung jüdischer Gestalten“ bei Hans Scholz,
Alfred Andersch u.a. Jüdische Kinder und Mädchen erscheinen
als „hilflos ausgeliefert und nicht autonom“, sind bloß Objekte
des inneren ethischen Ringens der deutschen Protagonisten und
keine Akteure im zwischenmenschlichen Geschehen; ihre Ausson¬
derung ist ihrer Gestaltung schon strukturell vorausgesetzt. Andersch‘
Roman „Efraim“, der als philosemitisch rezipiert wurde, ruft das
jüdische Opfer am Ende doch nur zum Zeugen für die Unerklär¬
lichkeit von Auschwitz als einer Katastrophe ohne Ursache auf.
Durchaus traditionell antisemitische Motive beschreibt Klüger
hingegen bei Gerhard Zwerenz und Rainer Werner Faßbinder.
Inzwischen sind weitere gewichtige Auseinandersetzungen zu dem
Thema publiziert worden, so der von Stephan Braese mitheraus¬
gegebene Sammelband Deutsche Nachkriegsliteratur und der Ho¬
locaust (1998) oder Klaus Brieglebs Streitschrift „Wie antisemitisch
war die Gruppe 47?“ (2003).

Unüberboten scheint mir die Klarheit und analytische Schärfe,
mit der Ruth Klüger die Illusion, deutsche Nachkriegsliteratur
hätte sich den Irrungen des Antisemitismus entwunden, wider¬
legt. Sie schreibt in demselben Band auch über Antisemitismus im
Werk jüdisch-österreichischer Autoren, geht auf die Darstellung des
Antisemitismus in Werken von Iheodor Herzl, Arthur Schnitzler
und Franz Werfel ein. Unbeantwortet bleibt aber die Frage: „Gibt
es ein ‚Judenproblem‘ in der österreichischen Nachkriegslitera¬
tur?“ Zu dieser Frage liegt meines Wissens keine einzige Studie
von Seiten der österreichischen Literaturwissenschaftler vor.

Es ist, als hätten in Österreich nie Juden gelebt, und nach 1945
seien sie unter Mitnahme ihrer Vergangenheit gänzlich ver¬
schwunden - unter Zurücklassung von zwei zerlesenen Bänden
Tante Jolesch. In der Literatur scheinen sie erst in den 1980er Jah¬
ren wieder aufgetaucht zu sein. Ein rätselhaftes Phänomen.

Die von Briegleb, nicht unzufällig Herausgeber der Schriften
Heinrich Heines, in Frage gestellte Rolle der Gruppe 47 als des
Reinwaschsalons der deutschen Nachkriegsliteratur hat in Öster¬
reich die „Wiener Gruppe“ übernommen. Ihre Spezialität: Der
„Jude“, tot oder lebendig, kommt überhaupt nicht mehr vor. Mit
ihrer „progressiven Ästhetik“ brach man zu neuen Ufern auf.

Richard Wall

Stecht nur zu

Die von allen guten Geistern Verlassenen

und das Ministerium der gebleckten Zähne

bringt Unheil über Amtswege

für die nicht im Kreis ihrer Freundschaft Belassenen.

Im Schatten dieser gedrückten

und blauen Verzweiflung

im Glanz der Tränen und Wut der Wunsch
dass sich Widerstand rege.

Die gespenstisch gut gekleideten

4 ZWISCHENWELT

Gebetsmiihlenartig wird seitdem in Österreich wiederholt, daß
sich die österreichische Literatur im Jungbrunnen von „Avantgar¬
de und Moderne“ völlig erneuert habe. Daß die Literatur dabei
auch das Gedächtnis verloren hat und dieses nun mühsam bei
Groß- und Urgroßeltern wieder zusammenbetteln muß, ist den
LiteraturbetreuerInnen entgangen. Jedenfalls: Solange einer glaubt,
kein Antisemit zu sein, kann ihm nicht geholfen werden.

Juden und Jüdinnen haben in der in Österreich gepflogenen Form
von politischer Aufklärung bis heute eine ähnliche Rolle wie in
Teilen der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie fungieren als An¬
schauungsmaterial für die erwünschte Reaktion der aufzuklären¬
den Jugend, an deren Gewissen appelliert wird. Beispiel: Im Ok¬
tober 1996 wurde in der Volkshalle des Wiener Rathauses die
Ausstellung „Anne Frank, eine Geschichte für heute“ gezeigt.
Lang ist es her und könnte wie von gestern sein. In der Einladung
zu der Ausstellung hieß es:

Begriffe wie Entrechtung, Verfolgung, Flucht, Verstecken, Deportation
und Mord werden anhand individueller Schicksale anschaulich ver¬
mittelt.

Die Urheber dieses Satzes fanden es also héchst praktisch, mit
Anne Frank und ihrer Familie „individuelle Schicksale“ zur Hand
zu haben, an denen man „Begriffe“ veranschaulichen konnte. Was
hier fehlte, war der elementarste Respekt vor den Opfern des na¬
tionalsozialistischen Rassenwahns. Der daran anschließende Satz
lautete:

Nationalismus und „Säuberungen“ sind auch Themen der Gegen¬
wart, genauso wie Helfen und Zivilcourage.

Die hier durch das „auch“ suggerierte Gleichsetzung von Natio¬
nalsozialismus und Nationalismus war und ist eine Verniedli¬
chung des Nationalsozialismus und missachtet, dass das Streben
nach nationaler Befreiung, also Nationalismus, was sonst? in vie¬
len Ländern treibendes Motiv des Widerstandes gegen den Natio¬
nalsozialismus war. Darüber kann man streiten. Fürchterlich ist,
daß man ermordete Juden für pädagogische Zwecke als Anschau¬
ungsmaterial handhabt. Hat sich etwas daran geändert? Und auch
bei lebendigen Juden, sollte man sich vielleicht mehr für ihre Pro¬
bleme als für „unsere“ Probleme mit ihnen interessieren.

Im Februar des Jahres hat mich ein Gedicht von Richard Wall
erreicht, das seitdem an Aktualität nicht eingebüßt hat, was für
ein politisches Gedicht ein Ausweis seiner Qualität ist. Über die
Funktionsweise des in dem Gedicht geschilderten Machtgefüges
wissen wir mittlerweile ein wenig mehr. -Konstantin Kaiser

Menschenfresser in frostigen Posen

die niemals gekiindigt werden

wandeln durch den Schmerz

anderer wie durch Papierwände

die ihre Wangen liebkosen.

Stecht nur zu, ruft das Messer, schneidet
ihnen das Gedächtnis aus ihren Händen.