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Es kam ein junger Aufseher herein. Auf seiner Brust hängen drei oder vier Abzeichen. Er tut, als ob er die Zelle durchsuchen würde. Für einen Augenblick hört er mit dieser mechanischen Durchsuchung auf und schaut mir schmerzvoll und bedauernd in die Augen. Bist du Priester?, fragt er. Ja, antworte ich ihm. Und mit Tränen in den Augen sagt er: Ich studierte in Wien. Aber dieser Krieg hat mein Studium abgebrochen. Und dazu noch mein Bein, meinen Arm und... Er zeigt mir sein Auge. Und jetzt bin ich Aufseher... Ach, Krieg ist ein großes Übel. Der Junge geht weg. Es bleibt aber die Unruhe, die er in meiner Seele hervorgerufen hat. Ein Übel ist der Krieg! Millionen von Menschen werden getötet, vergehen in sonnenlosen Kerkern oder werden verstümmelt, wie dieser junge Mann. Blut fließt in Strömen und überschwemmt die Erde. Ganze Familien werden ausgerottet. Dörfer und menschenreiche Städte werden zu traurigen Ruinen. Und das alles heute, im zwanzigsten Jahrhundert, im Jahrhundert der Lichter und der Zivilisation. Ja, ein Übel, ein großes Übel ist der Krieg. Aber wieso fährt sein feuriger Wagen immer noch über den zerrissenen Leib der Menschheit? Aus der Tiefe der Jahrhunderte kommen zu meiner Seele die Worte des Herrenbruders: Woher kommen die Kriege und woher die Streitigkeiten unter euch? Doch wohl daher, dass eure Lüste einen Kampf in euren Gliedern führen? Das wahnsinnige Jagen nach Lüsten und Eigennutz, der Mangelan christlicher Liebe sowohl bei Herrschern als auch bei Beherrschten, ja, das sind die Ursachen, die Kriege auslösen. Doch es wird der Tag kommen, den Jesaja schon vor Jahrhunderten vorhergesagt hatte, und an dem die Menschen ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen werden. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. 29. Juli Er überholt manche Häftlinge, die vor ihm an der Reihe waren. Ich schüttle Steinchen aus meinen Holzschuhen heraus. Der Aufseher drückt ein Auge zu und so gehen nun die beiden beim Spaziergang nebeneinander her. Deutscher katholischer Pfarrer. Gebildet und fromm. Er ist auch, sozusagen, zum Heiligen geworden, wegen der Not und der Entbehrungen. Mit welch einem Schmerz erzählt er mir von den Verfolgungen der gläubigen Christen durch das Nazi-Regime. Sie haben, sagt er, viele Gläubige niedergemetzelt. Und damit ich es besser verstehe, führt er seine wächserne Hand an seinem dünnen Hals vorbei. Weil sie sich dem Idol des Führers nicht zu Füßen geworfen haben, um ihm als Gott zu huldigen. Und viele von uns, mich auch, hat man lebendig in die Löwengruben geworfen, in die Konzentrationslager und die Gefängnisse. Aber, sprach er weiter, wir lassen uns nicht enttäuschen. Wir setzen unsere Hoffnung auf Gott... Die Flamme des Triumphs brennt nun hell in den Augen des deutschen Pfarrers. In Dachau allein sind über 20 Tausend Geistliche inhaftiert. [Anm. Hier liegt ein Irrtum vor. Es waren (lt. Stanislav Zäme£nik: (Hrsg. Comite International de Dachau): Das war Dachau. Luxemburg, 2002) im Zeitraum 1933-1945 insgesamt 2.720 Geistliche unterschiedlichster Konfessionen als Häftlinge in Dachau.] Dort hatte man mein Gegenüber anfangs eingesperrt. Dachau: das Wort, das zu unseren Zeiten für Hölle steht... Und zwar für solch eine Hölle, die selbst das Vorstellungsvermögen Dantes nur von ferne skizzieren konnte. An dieser Stelle änderte sich der Ton seiner Stimme. Ich wandte mich zu ihm um und sah ihn an. Er erstickte vor Schluchzen. Tiefe Freude und Stolz erfüllten meine Seele. „Stellt die Kirche Christi selbst heute noch solche gläubige und mutige Soldaten gegenüber ihren Feinden auf, so hat sie nichts zu fürchten. Sie wird siegen, wie sie ihre ersten, übermächtigen Feinde einst besiegt hatte. Sie wird siegen, weil sie Jesus Christus bei sich hat.“ Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende’. 13. August Beim Aufgehen der Zellentiir versucht der Aufseher mir etwas durch jede Menge Gesten zu verstehen zu geben. Aber ich kapierte nichts. Er ärgerte sich und kurz darauf holt er seinen Dolmetscher: „Im gegenüberliegenden Trakt, in Zelle Nummer Zwei, hat man heute Morgen den Griechen erhängt gefunden, der da eingesperrt war.“ Dieses Ereignis ist das Thema des Tages beim Spaziergang. Warum musste dieser Junge so etwas tun? Michalis, der Chauffeur, kommt zu mir. Er zeigt mir ein kleines, in ein Stück Tuch eingewickeltes Kreuzchen und sagt: Das gehörte ihm. Familienkleinod. Wir waren eng befreundet. Wir kannten uns schon aus Griechenland. Neulich war er zu mir beim Spaziergang gekommen, da man ja nirgendwo anders einen Freund sehen kann. Er war verzweifelt. „Ich halte es nicht mehr aus“, sagte er. „Die Schmerzen der Gelenkentzündung und die Gleichgültigkeit und Misshandlung des Arztes haben mich zur Verzweiflung gebracht. Aber... vielleicht in ein paar Tagen... Hier, nimm dieses Kreuzchen und, wenn du je wieder in die Heimat zurückkehrst, dann gib es meiner Familie.“ Ich habe es genommen, aber ihn auch heftig angefahren. Trotzdem... hat er es gemacht. Dieser Tod bedrückte mich. Ich hatte Angst, dass sich dieser Keim der Verzweiflung unter uns verbreiten würde — wehe dann! Ich kann nichts anderes tun, als den Gott sehnlichst darum zu bitten, mehr Glauben in unsere geplagten Seelen zuzufügen, damit wir den Anker der Hoffnung bei ihm setzen und nicht ins schwarze Meer der Verzweiflung versinken. Herr, stärke uns den Glauben! 25. Dezember Keine handwerkliche Arbeit in der Fabrik, dafür aber arbeitet fleißig der Geist in der Zelle: Unglückliche Brüder! Wie hattet ihr früher diese Tage verbracht! Und jetzt... In der Fremde, ohne jede Vorbereitung auf das große Fest. Weder Glocken und Kirche, noch Beichte und heilige Kommunion. Weder festliche Mahlzeit und Besuche, noch Gratulationen und Glückwünsche. Nicht einmal etwas Wärme. Hättet ihr bloß ein wenig Freiheit! Wenig, nur ein bisschen! Zwangsarbeit! Was könnte ich nur tun, um euch wenig zu trösten? Wie sonst, als mit ein paar Worten über die Liebe Gottes für seine leidenden Kinder, die als einzige uns begleitet und hier, in unserer Nähe, treu bleibt? Ich habe es geschafft, mehrere Blatt Papier zu bekommen, rund vierzig. Ich schreibe ein paar Worte der Liebe. Ich erzähle ihnen von der Liebe Christi. Von dem großartigen Ereignis der Menschwerdung. Ich versuche, ihnen Mut zu machen, etwas Hoffnung zu geben, ihre Seelen zu stärken, die durch die ewige Folter der hitlerischen Hölle fast ermattet sind. November 2021 37