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Andrea Capovilla
Fritz (Frederick) Brainins

BRAININ — Fritz’ Frederick. On May 3 at his home in Flushing.
Survived by his brother Max. Born in Vienna, Austria, he was an
exile-poet and wrote in English and German.

Dies war der Wortlaut der Todesanzeige fiir Fritz Brainin, die sein
Bruder Max am 24. Mai 1992 in der New York Times aufgab. Der
Name Fritz Brainin begegnete mir erstmals, als ich vor einigen Jah¬
ren nach englischen Ubersetzungen von Gedichten Theodor Kra¬
mers suchte. Brainin hatte die im englischen Exil geschriebenen
Gedichte seines Jugendfreundes Kramer gemeinsam mit dem Lite¬
raturwissenschaftler Jörg Ihunecke übersetzt!. Neugierig gewor¬
den, las ich Brainins eigene Gedichte, die der Vergessene und Wie¬
derentdeckte 1989 in Das siebte Wien gesammelt hat und war faszi¬
niert. Konstantin Kaiser hatte Brainin Anfang der 80er Jahre in
New York kontaktiert, zunächst aufgrund seiner Bekanntschaft mit
Theodor Kramer. Thunecke besuchte dann Brainin in New York
und erforschte und dokumentierte dessen dichterische Spuren in
den vergangenen Jahrzehnten in mehreren Publikationen? und be¬
wegte ihn auch zu zwei Wienbesuchen und der Arbeit an der reprä¬
sentativen Gedichtsammlung. 2019 hatte ich bei einer Konferenz
zum Exil in New York zudem Gelegenheit, Brainins Großneffen
Rob Heller und Henry Heller, den Witwer Ricky Hellers, der Toch¬
ter seines älteren Bruders Max, kennenzulernen.’ Max Brainin, aus¬
gebildeter Architekt und späterer Graphiker, der den jüngeren Bru¬
der um eine Dekade überlebte, hat für das Leo Baeck Institute im
Jahr 1997 ein langes Interview gegeben, das Einblick in beider Le¬
bensgeschichten gibt. Und trotz all dieser Informationen bleibt
Fritz/Frederick/uncle Fred Brainin eine schwer greifbare Person,
vielleicht zog er das auch vor. Abgesehen von den Essays von Kons¬
tantin Kaiser und Jörg Thunecke gibt es bislang keine wissenschaft¬
liche Literatur zu Fritz Brainin, unlängst hat jedoch Joshua Parker
erfreulicherweise drei seiner Gedichte in einer zweisprachigen An¬
thologie österreichischer Exilautor*innen in Manhattan aufgenom¬
men. Parker schöpfte seinen Fundus an Gedichten von fünfund¬
dreißig österreichischen Fxillyriker*innen aus dem Nachlass Mimi
Grossbergs, die im New Yorker Exil die beste Netzwerkerin in der
österreichischen Emigrantenszene war und selbst zwei Anthologien
mit Gedichten ihrer Mitexilanten publiziert hat.

Biographische Skizze

Fritz Brainin wurde 1913 in Wien geboren, verbrachte die Jahre des
ersten Weltkriegs bei der mütterlichen Familie in Mähren und
wuchs danach in der Lessinggasse im zweiten Bezirk auf. Er und
sein um vier Jahre älterer Bruder Max engagierten sich in der sozia¬
listischen Jugendbewegung, die Familie feierte die jüdischen Festta¬
ge aber war ansonsten sekulär. Er publizierte bereits 1929, also noch
als sechzehnjahriger Realschüler, seinen ersten Lyrikband, mit dem
schönen Titel Alltag’ „Und mein Gesang ist nur das Licht / Die
tiefen, blaubespannten Seen; / Wohin ich gehe, weiß ich nicht: Es
ist ein weites, weites Geh’n.“ heißt es da beispielsweise.° 1934 war
eine zweite Publikation gerade noch möglich, unter dem strategisch

gewählten Titel Die eherne Lyra, und 1936 wurde ihm der Literatur¬
preis der Julius Reich-Stiftung zugesprochen. Damit endete die po¬
etische Laufbahn in Österreich abrupt. Brainin schrieb kämpferi¬
sche politische Gedichte, Natur- und Liebeslyrik und in den dreißi¬
ger Jahren auch einige Gedichte mit kritischem Amerikabezug, mit
Titeln wie Ozeanflieger, oder Gesang vom Zeitgenossen, die Brecht’sche
Klänge vernehmen lassen: „Ich habe ihn einmal geschen. / In Ton¬
filmwochenschau Bild 3. / Ein Flieger in schwindelnden Höhen. /
Der Zeitgenosse flog vorbei.”

1938 emigrierte Brainin zusammen mit Max über Italien nach New
York, wo sie zunächst bei Verwandten unterkamen, die bereits seit
den frühen zwanziger Jahren dort lebten. Auch die Mutter Melanie
entkam nach New York, der Vater war 1933 verstorben. Max
Brainins Ehefrau Elise erreichte ebenfalls über England New York,
ihre Eltern jedoch wurden ermordet, der Vater Richard Vogel in
Dachau 1938, die Mutter Rosalia Vogel 1942 in Auschwitz.

Joseph Brainin, ein Cousin, war ein etablierter Journalist und Her¬
ausgeber des Seven Features Syndicate, Fritz fand durch ihn erste Ge¬
legenheitsarbeiten. Er war ein politisch wacher und zorniger junger
Mann, der im Dienst der US-Army gegen die Faschisten kämpfen
wollte, berichtete sein Bruder. Brainins Einsatz als Wächter und
Postzensor in einem Kriegsgefangenenlager in Nebraska sollte sich
aber als wohl traumatischer erweisen, als die Emigration selbst, und
er durchlitt eine mehrjährige Rekonvaleszenzperiode. 1949 heirate¬
te er Florence Priluk, sie hatten einen Sohn, Perry. Brainin arbeitete
in wechselnden Jobs als Übersetzer von technischen Texten und
Patenten und übersetzte Lyrik. Er schrieb weiterhin auch selbst,
bald in seinen beiden Sprachen, aber konnte nur sporadisch in An¬
thologien veröffentlichen. Bekanntlich hat sich Österreich nur mit
jahrzehntelanger Verzögerung um Verbindungen zu den Exilierten
und deren Einbeziehung in den literarischen Diskurs bemüht. Als
Jörg Ihunecke und Konstantin Kaiser Brainin persönlich kennen¬
lernten, war sein Gemütszustand fragil, da ihn ein kaum verkraftbarer
Schicksalsschlag getroffen hatte, sein Sohn Perry war 1981 ermordet
worden. Seine Frau, über die schr wenig bekannt ist, kam darüber
wohl nicht hinweg und überlebte den Sohn um nur wenige Jahre.

New Yorker Gedichte

Ich werde mich auf einige seiner New Yorker Gedichte, die sich oft
auf spezifische Orte, Passanten und Objekte in der Stadt beziehen,
konzentrieren. Ein frühes solches ist das erste einer Reihe von Eng¬
lisch-Klassenübungen:

Englisch-Klassentibungen (1)*

Wie leicht ists dich zu lieben!
Die Wolk über dir zu lieben,
Das Frührot in deinen Fenstern:
Wie leicht ists dich zu lieben!

Dezember 2021 23