nicht mehr sagen dürfe und mir erklärt
hat, wieso. Ich habe die Phrase aus mei¬
nem Wortschatz gestrichen. Spätestens
nachdem ich den Film „Der Junge im ge¬
streiften Pyjama“ gesehen habe, hätte ich
sie aber sowieso nicht mehr verwendet.
Meine Mutter hat in ihrer Schulzeit einen
Ausflug ins KZ Mauthausen gemacht. In
ihrer Erinnerung sei das eigentlich ein
Schulausflug wie viele andere gewesen.
Aber eben nur eigentlich. Fin Bus mit
über dreißig Mädchen. Die letzte Bank
wie immer am lautesten.
Die original erhaltenen Baracken mit
den Stockbetten. Jede Massentierhaltung
heutzutage ist humaner.
Die Verbrennungsöfen im Keller, die
schwarzen Löcher in der Wand.
Meine Mutter ist stehen geblieben. Sie
weiß nicht mehr wieso, aber wahrschein¬
lich, um eine Tafel zu lesen. Und plötzlich
war sie allein. Keine Schulkollegin mehr
vor ihr und keine mehr hinter ihr. Mei¬
ne Mutter hat angefangen zu weinen und
war gar nicht mehr zu beruhigen. Hat ge¬
weint, weil sie allein war und hat geweint
um das, was dort passiert ist.
Ich bin mit meiner Klasse nicht ins KZ
gefahren. Es stand — soweit ich mich erin¬
nere — einmal zur Diskussion, die Wahl ist
aber dann auf das Dokumentationszent¬
rum auf dem Obersalzberg gefallen. Die
Bilder zur Shoah, die wir dort gesehen
haben, haben mich sehr erschiittert. Noch
heute, vier Jahre spater, erinnere ich mich
daran, dass ich im Dokumentationszent¬
rum gefroren habe und das lag nicht nur
an der Klimatisierung.
Bei einem Puzzle fängt man immer mit
dem Rand an. Man schafft sich einen
Rahmen. Die Geschichten von meinen
Vorfahren, die den Zweiten Weltkrieg
und die Nachkriegszeit miterlebt haben,
waren für mich immer die Randstücke.
Über die Jahre habe ich mit dem, was ich
in der Schule gelernt habe und dem, was
ich aus Büchern oder Filmen weiß, immer
weitere Puzzleteile zusammengesetzt. Sie
so lange gedreht, bis sie ineinandergepasst
haben. Und irgendwann konnte ich sie
dann mit dem Rand verbinden. Mir war
bewusst, dass das, was ich über den Zwei¬
ten Weltkrieg und die Shoah weiß oder zu
wissen glaube, kein vollständiges Bild ist
und das ist es auch jetzt nicht. Aber die
Lektüre von Barbara Serloths Buch „Nach
der Shoah. Politik und Antisemitismus in
Österreich nach 1945“ hat mir geholfen,
in meinem Bild von dieser Zeit einige feh¬
lende Puzzleteile zu ergänzen.
Bereits im Vorwort ihres Buchs „Nach
der Shoah. Politik und Antisemitismus
in Österreich nach 1945“, das im Herbst
2019 im mandelbaum verlag erschienen
ist, weist Serloth darauf hin, dass zwar des
Antisemitismus im Nationalsozialismus
gedacht wird, dass aber weitestgehend
ausgeblendet wird, wie es mit dem Anti¬
semitismus nach 1945 weitergegangen ist.
Es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass der
Antisemitismus in Österreich nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reichs ein¬
fach aufgehört hat. Wie mit den Juden in
der Nachkriegszeit in Österreich - speziell
in der Politik — umgegangen worden ist,
war mir jedoch vor der Lektüre des Buches
nicht bewusst.
Barbara Serloth hat sich eingehend mit
den Protokollen von den Nationalratssit¬
zungen, Ministerratssitzungen und Ka¬
binettssitzungen der Nachkriegszeit aus¬
einandergesetzt. Einzelne Aussagen aus
den Reden der Politiker werden in ihrer
Studie analysiert, interpretiert und in ei¬
nen größeren Zusammenhang eingeord¬
net. Damit gewinnt man auf den rund
300 Seiten einen guten Überblick über die
Einstellungen einiger Politiker der dama¬
ligen Zeit.
Den Juden, die geflüchtet sind, wurde vor¬
geworfen, dass sie sich „davon gemacht“
hätten, dass die „wahren“ Österreicher ge¬
blieben wären. Im Ausland hätten sich die
Juden ein schönes Leben gemacht. Dort
hätten sie — wenn es nach der Meinung
einiger österreichischer Politiker gegangen
wäre — auch bleiben sollen. Schnell wur¬
den aus den Geflüchteten, Verfolgten, den
Exilierten, Emigranten gemacht.
Die „Ehemaligen“ hingegen hat man in
der Nachkriegszeit so schnell wie möglich
wieder in die österreichische Gesellschaft
integriert. Sie wurden als Fachkräfte bald
wieder in ihren alten Positionen eingesetzt
und bei den zweiten Nationalratswahlen,
als sie wieder wählen durften, wurden sie
von den Parteien, die die Wählerstimmen
der „Ehemaligen“ für sich gewinnen woll¬
ten, geradezu umworben.
Dass die Juden ihres Eigentums, ihres Ver¬
mögens und ihrer Wohnungen beraubt
wurden, also die Arisierung im National¬
sozialismus, wird in meinem Geschichte¬
buch aus der achten Klasse mit nur einem
einzigen Satz erwähnt. In Serloths Buch
„Nach der Shoah“ ist die Arisierung bzw.
die daraus resultierende rechtmäßige For¬
derung der Juden nach Restitution eines
der zentralsten Themen.
Die Politik hat die Juden anderen Opfern
des Krieges gleichgestellt und versucht,
damit ihre Forderungen zu delegitimie¬
ren. Mangelnde Informationspolitik, viel
zu kurz gegriffene Fristen und zu wenig
Unterstützung auf jüdischer Seite waren
gang und gäbe. Weiters war der Opfermy¬
thos ein gängiges Narrativ. Dass Öster¬
reich das erste Opfer Hitlers gewesen sei,
dass die Österreicher nichts verbrochen
und deshalb auch nichts gut zu machen
hätten. Die Rückgabe des arisierten Ei¬
gentums war ein jahrelanger Kampf.
Barbara Serloth hat im Zuge ihrer Studie
außerdem Interviews mit Zeitzeugen ge¬
führt. Diese schildern eindrücklich, wie
sie die Arisierung, die Rückkehr nach
Österreich und die Restitution erlebt ha¬
ben. Die Interviews mit den Zeitzeugen
sind in den letzten Kapiteln des Buches
zu finden. Bedauerlicherweise nehmen
diese Interviews im Verhältnis zum Rest
des Buches relativ wenig Platz ein. Wobei
nicht außer Acht gelassen werden darf,
dass es sicherlich nicht einfach gewesen
sein dürfte, überhaupt Interviews mit
Zeitzeugen zu führen, da diese zu einem
Großteil wahrscheinlich nicht mehr am
Leben sind oder ungern über die damali¬
ge Zeit sprechen wollen.
„Nach der Shoah“ bietet die Möglich¬
keit, bereits vorhandenes Wissen über
den Nationalsozialismus, die Shoah, die
Nachkriegszeit und den Antisemitismus
aufzufrischen und Neues dazuzulernen.
Fehlende Puzzleteile können ergänzt wer¬
den. Vor allem aber regt Serloths Buch
dazu an, sich wieder intensiver mit dieser
Zeit auseinanderzusetzen. Nur so kann
gewährleistet werden, dass das „Nie wie¬
der!“ nicht zu einer Floskel wird.
Anna Weinkamer
Barbara Serloth: Nach der Shoah. Politik
und Antisemitismus in Österreich nach
1945. Wien/Berlin: mandelbaum verlag
2019. 304 S., € 25,¬
Anna Weinkamer, geboren 1998 in Wien,
aufgewachsen in Salzburg, derzeit Studium
der Germanistik an der Paris Lodron Uni¬
versität Salzburg, Gewinnerin des Wiener
Jugend Literaturpreises 2015, veröffentlich¬
te u.a. in „SALZ. Zeitschrift für Literatur“
und in ZW.