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Martin Pollack Schändlich und dumm Der Schriftsteller Franzobel betrachtet aus sicherer Entfernung das blutige Gemetzel in der Ukraine und ist entsetzt. Doch er hat, Gott sei gelobt, auch gleich einen Ratschlag zur Hand. Eigentlich ganz einfach: Die Ukraine solle kapitulieren, eine Exilregierung bilden und auf besseres Wetter hoffen. Warum sind wir nicht schon längst darauf gekommen? Nun könnte man freilich die Frage stellen, ob dieser Ratschlag wirklich so klug ist, vor allem aus Sicht der Ukraine? Was wäre gewesen, wenn die Alliierten auf Hitlers Erpressungen und Angriffskriege so reagiert hätten, wie Franzobel das jetzt den Ukrainern empfiehlt: Kapitulieren, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Land „kurzfristig von den Landkarten verschwinden“ würde. Hitler hätte sich die Hände gerieben, und wer weiß, vielleicht würden heute noch Hakenkreuzfahnen über der Hofburg, dem Brandenburger Tor, dem Eiffelturm und anderen europäischen Wahrzeichen wehen. Doch Franzobel denkt nicht in historischen Kategorien, die sind ihm offenbar fremd. Eine Frage sei in diesem Zusammenhang noch erlaubt: Worauf stützt Franzobel seine Ansicht, dass die Ukraine im Fall einer Kapitulation nur „kurzfristig“ von den Landkarten verschwinden würde? Da hat er anscheinend seinen Putin nicht aufmerksam gelesen, denn von „kurzfristig“ ist bei Putin nirgends die Rede. Im Gegenteil. Er spricht der Ukraine unverblümt jedes Existenzrecht ab, das Land, das er als solches gar nicht anerkennt, soll für immer von den Karten getilgt werden, samt seiner Kultur und, auf längere Sicht, samt seiner Sprache. Putin macht gar keine Anstalten, diese mörderischen Absichten zu verschleiern, sie in lügnerische Watte zu verpacken, er hat alle Hüllen abgeworfen und präsentiert sich so, wie er eigentlich immer schon war: ein skrupelloser, vor keiner Grausamkeit, keiner Vernichtung von Menschenleben, Alte, Frauen und Kinder miteingeschlossen, zurückschreckender Kriegsherr, der nur die rohe Gewalt kennt. Wer heute noch glaubt, mit Putin verhandeln, ihn zur Einsicht bewegen zu können, weil er doch am Ende ein rational denkender, zu Einsichten fähiger Politiker ist, der ist entweder blind oder zynisch, oder, noch schlimmer, beides zugleich. Ich will einmal davon ausgehen, dass Franzobel zu den Blinden gehört, zu den Ahnungslosen, die jetzt das Wort ergreifen und irgendetwas daherplappern, um ein Stückchen Aufmerksamkeit zu erhaschen. Das ist ihm ja nun gelungen. Allerdings verraten seine Ausführungen nicht nur fundamentales Unwissen, sondern auch ein gerütteltes Maß an Niedertracht. So etwa, wenn Franzobel die ukrainischen Verteidiger unterschiedslos in einem Atemzug mit den russischen Angreifern nennt — „sollen sich diese Reserve-Rambos gegenseitig das Restgehirn wegpusten“ — und obendrein den ukrainischen Präsidenten persönlich angreift, indem er ihn als fragwürdige Figur darstellt: ein Schauspieler, der schon einmal in einer Fernsehserie seine Rolle als Präsident gespielt hat. Oh Gott! „Was das über das Wesen der Demokratie sagt“, so Franzobel unheilschwanger, „sei dahingestellt“. Das führt er nicht weiter aus, weshalb wir nicht erfahren, was so schlimm daran sein soll, dass Selenskyi Schauspieler war und einmal einen Präsidenten gespielt hat. Warum soll ihn das für das Amt disqualifizieren? Meines Erachtens ist die Ukraine um ihren Präsidenten zu beneiden, er beweist in dieser katastropha18 = ZWISCHENWELT len Situation eine Größe, die vielen seiner europäischen Amtskollegen gut anstehen würde. Gegen Ende seiner Ausführungen bringt Franzobel noch ein Bild, das uns, im fernen, sicheren Österreich sitzend, in die Rolle von Eltern versetzen soll, „die zusehen, wie der kleinere Bruder dem aggressiveren größeren die Nase blutig schlägt, aber ... nicht eingreifen, wenn sich dieser unbarmherzig rächt“. Im Ernst jetzt? Der Kleinere hat also die Auseinandersetzung begonnen, indem er dem Größeren die Nase blutig schlug. Da darf sich niemand wundern, wenn sich dieser gnadenlos rächt. Selber schuld. Franzobel bemüht hier die Täter-Opfer-Umkehr, die traditionell zum rhetorischen Repertoire Putins gehört. Die Ukraine, beherrscht von mit Drogen zugedröhnten Nazis, war drauf und dran, das friedliche Russland zu überfallen, das sich naturgemäß zur Wehr setzen muss. Dass ein bekannter österreichischer Autor solche verlogenen Argumente übernimmt und sich damit als Apologet eines skrupellosen Diktators und Schlächters outet, ist so schändlich wie dumm. Franzobel sollte sich schämen für diesen Text. Zuerst erschienen in “Falter” (Wien, 1. April 2022, als Antwort auf Franzobels “Lob der Feigheit”, erschienen am 26.127. März als “Kommentar der Anderen” in “Der Standard” (Wien. Martin Pollack, 1944 in Bad Hall geboren. Autor und Übersetzer polnischer Literatur. Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte in Wien und Warschau. Theodor Kramer-Preisträger des Jahres 2019. Werke (Auswahl): Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina (1984); Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann (2002); Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater (2004); Warum wurden die Stanislaws erschossen? Reportagen (2008); Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien (2010). Die Frau ohne Grab (2019). Ein Dröhnen: Es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber (Paul Celan) „Die Täuschung wurde schon immer als etwas Lebensbewahrendes und Lebensbejahendes gesehen.“ (Lisza Hirn, von Nietzsche inspirierte Philosophin in Wien)