und dem Aufbau bezicht sie sich dabei auf das Brahms-Requiem.
Agneta Hauber schreibt in der Einleitung ihrer ebenso lesens¬
wie empfehlenswerten und Pionierarbeit leistenden Dissertation
über Melitta Urbancic zur Rezeptionsgeschichte ihres Werks:
Da Melitta Urbancics Werk unbekannt geblieben ist, kann auf kei¬
ne Forschung oder Rezeptionsdiskussion bezüglich ihres Werkes zu¬
rückgegriffen werden.®
Ergänzend zu erwähnen wäre an dieser Stelle die auf Englisch
verfasste Arbeit „Ihe Saga of Melitta Urbancic“ von Peter Sten¬
berg? aus dem Jahr 2017, für die er eigens einige Gedichte Melitta
Urbancics ins Englische übersetzt hat. Wobei hier anzumerken
wäre, dass Melitta Urbancic selbst auch auf Englisch geschrie¬
ben hat, bzw. ihre Gedichte ins Englische übersetzt hat. So gibt
es beispielsweise im Nachlass mit „EHE WHITE-BAND PO¬
EMS“ auch ein ganz auf Englisch verfasstes Manuskript.
Literarisch verortet Melitta Urbancic sich selbst im Spannungs¬
feld zwischen Rilke und George:
Mit inniger Hingebung in Rilkes dunklem Wesen längst verwurzelt
und von seiner wehenden Sprache beschwingt, bedeutet mir Georges
prophetische und erzieherische Wortkraft keinen Widerspruch, son¬
dern eine notwendige Ergänzung, gleichsam das feste Gerüst, das der
zu leicht zerflatternden Seele Halt und Richtung gibt.”
Ihre liebste Gedichtform war seit frühester Jugend das Sonett,
eine immer noch überaus lebendige Gedichtform, die am Hof
Kaiser Friedrichs II. entstanden ist:
Das Sonett liegt nach dem ersten Drittel de Duecento unvermittelt
als fixierte Form in 35 Exemplaren vor, von denen der gröfste Teil
einem einzigen Autor zugeschrieben wird, der heute allgemein als
Erfinder des Sonetis gilt: Giacomo da Lentini, ein hoher Beamter
am sizilianischen Hof Kaiser Friedrichs II., dessen Wirken zwischen
1233 und etwa 1245 bezeugt ist |... .]"
Schon wegen seiner romanischen Wurzeln war das Sonett im
Nationalsozialismus verpönt. Alleine die Entscheidung, damals
Sonette zu schreiben, war damit per se schon ein politisches Sta¬
tement. Theodore Ziolkowski untersuchte die Form des Sonetts
als Form des Protests in der Literatur des Exils und der Inneren
Emigration:
Erstens gilt das Sonett im Gegensatz zu den „arteigenen“ Formen als
eine betont fremde oder sogar „entartete“ Gattung. [...] Schon die
Tatsache, daß ein Dichter sich vornimmt, ein Sonett zu schreiben,
läßt sich also als ein leiser Akt des Protestes gegen die germanisierende
Kulturpolitik des Dritten Reiches verstehen. Die Verwendung des
Sonetts bedeutet ferner eine Bejahung der Form an sich im Gegen¬
satz zu den begeisterten und eher formlosen Hymnen der Parteidich¬
tung.
Diese Auffassung des Sonetts als einer historisch verwurzelien Gat¬
tung bedeutet zweitens eine Anerkennung der Tradition.‘
Ziolkowski erklärt sich die Beliebtheit des Sonetts in jener Zeit
bei verfolgten und versteckten Dichtern und Dichterinnen ferner
auch durch den Halt, den das Sonett durch seine strenge Form
zu geben verspricht und die dem allgemeinen Chaos entgegenge¬
halten wird:
Wo man auch hinschaut, blicken die Sonettisten ins Chaos, dem
sie in letzter Verzweiflung die Form des Gedichtes entgegenhalten.'”
Vor diesem Hintergrund liest sich das Sonett, welches Melitta
Urbancic über den Moment, in dem sie realisiert, dass ihr die
Flucht mit den drei Kindern im allerletzten Moment doch noch
gelungen ist, nochmals anders:
Der Morgen kam !— Durchs trübe Fenster braute
das erste Dämmern im Vorüberfliegen —
Die Kinder schienen jetzt in Schlaf zu liegen,
der Säugling auch, nachdem die Brust ihm taute.
Nur in den Adern, unbeschwichtbar, graute
die Angst der letzten Nacht vorm Tagessiegen —
Doch als ins Morgenrot die Farben stiegen
leuchtend wie nie — und frei der Himmel blaute —
da lag der erste Schépfungstag vorm Blick:
Die Erde dampfte Feuchte noch vom Meer
Das Vieh ruht im Urfrieden auf der Weide —
Ein Hauch vom Flügelschlagen im Geschick,
sich wendend, weht vom Todesabgrund her:
Das Leben lächelt wieder überm Leide !“
Melitta Urbancic hat jedoch nicht, wie viele der von Ziolkows¬
ki angeführten Dichter und Dichterinnen, ausschließlich in der
Zeit des Dritten Reichs Sonette geschrieben, da ihre Vorliebe für
das Sonett auch in ihrer Verehrung für Rilke begründet liegt.
Auch lassen sich nicht immer alle ihre Gedichte zeitlich genau
einordnen. In ihrem Manuskript „FERNE NÄHE“ war ein ei¬
genes Kapitel mit 49 Sonetten geplant, wie eine handschriftliche
Notiz verrät.
Und auch an der vom Sonett sehr verschiedenen japanischen
Form des Haiku versucht sie sich, selten aber doch, mit einigen
Gedichten:
Meine Laute schweigt
bis zum ersten Frühlingsmond —
Aber nicht mein Herz - ”
Agneta Hauber fasst die Hauptmerkmale ihrer Lyrik wie folgt
zusammen:
Ihre Lyrik zeichnet eine traditionelle Vers- und Reimform sowie eine
Einheit von Form und Inhalt und hohe Relevanz der Klang- und
Rhythmusfiguren aus, dazu eine klare Ästhetik des Essenziellen ohne
schmückendes und wortreiches Beiwerk.'°
Wie musikalisch ihre Gedichte gedacht sind sieht man auch dar¬
an, dass einige davon noch zu ihren Lebzeiten von ihr selbst oder
auch von Victor Urbancic als Lieder vertont wurden. Auch gibt
es Scherzlieder von ihr, fiir die sie einen neuen Text zu bekann¬
ten Kinderliedern verfasst hat. Einen für sie ungewöhnlichen und
sehr direkten Ton schlägt sie in ihrem Gedicht „WIEN BLEIBT
WIEN“ an, wenn sie im Dialekt in sieben Strophen das Nach¬
kriegswien kritisiert:
Wien bleibt Wien, wie das eiserne Mandl
aufam Rathausturm dromat ja wohl
mit san rostigen Wind-Wetter-Fahndl
als Wiener Charaktersymbol:
Was heute schwarz dort droht,
is über d’Nacht scho rot
und umdraht is a g’fohr'n, holt je nocham Wind,
für a wendiges, waschechtes Urweanakind !
Wien bleibt Wien durch die schönen Kulissen
aus am früheren Akt noch, uralt,