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ich, dass sie mich und mein Interesse an ihr wahrgenommen hatte.
Vorsichtig machte sie sich ihrerseits täglich bemerkbar. Das wurde
neben dem Lernen zu einem Ritual. Immer zur selben Zeit ging
sie mit einem verstohlenen Blick in meine Richtung am Teehaus
vorbei. Ihre prüfend blickenden schwarzen Augen, die doch mei¬
ne Leidenschaft erregten, versetzten mich in eine Welt, in der nur
wir allein waren und auf Wolken schwebten. Stundenlang blieb ich
darin befangen, Ich war an sie vergeben, ohne ein Wort mit ihr
gewechselt zu haben. Das Feuer war in mir entflammt, ohne dass es
jemand entzündet hatte. Ich war nur mehr in Gedanken. Und jedes
Mal rief Azad schließlich: „Die Pferde sind wieder zurück!“

Mein Vorbild war mein Vater. Er hatte stets gesagt: „Egal was du
machst und wie du es anstellst, Lesen, Schreiben und Sprachenler¬
nen sollte unbedingt dein oberstes Ziel sein. Dadurch steht dir jeder
Weg offen.“ Tatsächlich beherrschte er all das selbst nicht, wusste
jedoch sehr viel über das einfache Leben; davon hatte er am eigenen
Leib genug erfahren. Andere Menschen mit scharfem Verstand ver¬
suchen, alles und das Leben selbst gedanklich auseinanderzulegen,
um es besser zu verstehen. Er aber war hineingeworfen worden in
dieses Element, ob er es wollte oder nicht.

Azad merkte, dass ich willig lernte, bald konnte ich ein wenig le¬
sen. Er war ursprünglich Lehrer gewesen. Aber lieber wollte er das
Chaikhana führen als unter dem Baath-Regime zu leben. Zuerst
lehrte er mich den Koran. Er meinte: „Neben deiner Mutterspra¬
che brauchst du unbedingt eine zweite und in der Welt anerkannte
Sprache, mit der du deine Chancen erhöhst.“ So nahm ich mir vor,
Arabisch zu lernen.

Von Zeit zu Zeit wurde Azad von dem Vater des von mir verehrten
Mädchens zum Essen eingeladen. Er ahnte inzwischen, dass mein
Herz an sie verloren war. Einmal nahm er mich mit. Auf dem Weg
wollte mein Herz vor lauter Aufregung fast davonflattern, als ob
es Flügel hätte. Um auf den Boden zurückzukommen und mich
abzulenken, redete ich mit Azad Unsinn.

Ihr Zuhause bestand aus zwei nebeneinander liegenden kleinen
Zimmern, die Küche war in einer schmalen Abteilung im Freien
eingerichtet. Sie kochte gerade mit ihrer älteren Schwester, als der
Vater uns freundlich empfing. Ihre Familie verdiente bestimmt
kaum Geld. Sie lebte schr bescheiden von dem selbst Angebauten,
den paar Nutztieren und den gesammelten Kräutern, die auch als
Heilmittel gehandelt wurden. Der Bruder war noch ein Säugling.
Ihr Vater sagte wiederholt: „Gott sei Dank, wir haben alles, was uns
am Leben hält.“ Während die Männer sich bald fleißig und unnötig
über die politische Lage Kurdistans und der Welt stritten, streifte
mich ihr Blick flüchtig im Vorübergehen. Nicht ohne Absicht war
er, ganz für mich bestimmt, und versenkte mich im Morast meiner
wüstesten Fantasien. Es war nur ein zarter Blick, ein Augenauf
schlag. Fern jeder Wirklichkeit blieb ich so lange, bis Azads kräftige
Stimme mein Ohr erreichte: „Wir brechen auf.“ Ihren Namen hörte
ich an diesem Tag zum ersten Mal: „Shilan“. Nun war sie alles:
Hoffnung, Liebe, Leben, der Sinn all dessen und die wichtigste
Stütze an diesem Ort, an dem ich sonst einsam war.

Je umfassender meine Träume mit und von ihr wurden, desto eif¬
riger wurde ich beim Lernen. ich las alles, was sich bot. Ich bekam
aber selten etwas Neues zu lesen, und so wiederholte ich die Verse
des Korans. Heimlich bat ich die Peshmerga der kurdischen kom¬
munistischen Partei um Schriften. Da sie selten zu uns kamen, be¬
kam ich nur das, was sie zufällig bei sich hatten. Oft verfasste ich
in der Nacht Briefe. Auf diese Weise konnte ich Shilan mitteilen,
was ich für sie fühlte, und meinem Vater sagen, wie sehr ich ihn
vermisste, wie dringlich ich seine Anwesenheit an meiner Seite be¬

nötigte, wie fürchterlich durch seinen plötzlichen Tod Mutters Welt
und damit auch unsere in den Abgrund gerissen worden war. Und
jedes Mal flehte ich zum Schluss meine Mutter an, uns nicht eben¬
falls im Stich zu lassen. Ich bat sie zu verstehen, dass ihr Dasein, ihre
Liebe, ihre Wärme, ihre Zuneigung für unsere Existenz lebensnot¬
wendig seien und sie deshalb stark bleiben solle. Zuletzt hätte ich
das Geschriebene gerne als Gesuch „Ich bitte um Erfüllung dieser
Notwendigkeiten“ an eine göttlicher Allmacht ähnliche Instanz
geschickt. Da ich dieser Allmacht nicht vertraute, schlief ich nach
dem Schreiben ein. So verbrachte ich alle Tage die Zeit nach der
Arbeit. Ich glaube, ein ganz gewöhnliches Menschenwesen war ich
wohl nicht. Ich nahm alles mehr als andere wahr.

Die Zeit verging schnell. Zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters
erkrankte meine Mutter schwer. Niemand wusste genau zu sagen,
was ihr fehlte. Sie hatte überall Schmerzen, nahm ständig ab. Da
wir nicht genug Geld hatten und manchmal überhaupt keines, und
vor allem keines dafür, wollte sie nicht zu einem richtigen Arzt ge¬
hen. „Es wird wieder besser“, meinte sie.

Meine Mutter war an sich voll der Liebe und des Mitgefühls, ließ
sich aber nur ganz wenig davon anmerken. Sie war der Ansicht,
dass in dieser Welt ein Übermaß davon Menschen schutzlos ma¬
chen und somit zerstören könnte. Vielleicht hatte sie damit Recht.
Dennoch konnte ich immer ihre Güte spüren. Und ich war süchtig
nach ihrem anmutigen Anblick.

An einem überaus kalten Wintertag, an den ich mich lange er¬
innern sollte, herrschte absolute Stille, weit und breit lag Pulver¬
schnee, die Augen sahen durch den Wirbel dicker Flocken keinen
Meter weit. Der Wind war unangenehm stark, hatte eine feine
Schicht des Neuschnees abgetragen und blies diesen Schnee hef¬
tig auf das Teehaus und von unten hinauf unter die Decke. Jedes
Mal, wenn der Wind mit dem Schnee durch alle undichten Stellen
hindurchdrang, krachte die Decke, ich schwebte zwischen Bangen
und Hoffen. Dankbar war ich, dass die Decke hielt, beängstigend
war die Vorstellung, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein und
besonders von meiner Mutter. Das Allerschlimmste aber war, dass
ich an solchen Tagen, an denen die Wege nicht passierbar waren,
nichts verdiente. Trotzdem taten mir diese Auszeiten nach pausen¬
losen Arbeitstagen gut, ein wenig konnte ich mich ausruhen. Da
ich aber weniger Geld nach Hause schicken konnte, musste mei¬
ne Mutter für den fehlenden Betrag mehr Brot backen und mehr
Schmutzwäsche der Nachbarn mit ihren zarten Händen, die durch
ihre Krankheit nur mehr Haut und Knochen waren, waschen.
Noch Tage später kamen keine Fremden vorbei. Ich las den Koran,
Azad korrigierte meine Fehler und übersetzte alles, was von mir
kam, so wie er es verstand. Ich stellte Fragen oder hörte nur zu. Die
Zeit verging zäh. Langweilig, wir haben es damals aber überlebt.
Die ausgehungerten Hunde an der Stallmauer litten im Frost un¬
ter der fehlenden Nahrung, aber auch unter dieser Trostlosigkeit.
Einmal musste ich im Hühnerstall nachschauen, ob wir Eier zum
Essen hätten. Da musste ich an ihnen vorbei. Mit leerem Magen
dem eiskalten Winter standhalten zu müssen, machte sie angriffs¬
lustiger. Zu fressen bekamen sie meist nichts als die kümmerlichen
Essensreste der paar Bewohner. Wenn sie wild wurden, mussten sie
einiges einstecken, kamen sie voller Hoffnung Durchkommenden
zu nahe, flogen die Steine. Aber sie waren frei, nicht angekettet. Ich
kannte den Hunger und fühlte in schwierigen Zeiten mit ihnen.
Zwei “Kulera” — kurdische Brote — konnte ich ihnen gleich vor¬
werfen. Von den sechs Eiern bekamen sie zwei. Dafür musste ich
wohl oder übel lügen. Dass ich mich verstellen, mich verleugnen
musste, war das Schlimmste daran. Diese Erfahrung, durch Lüge

August 2022 49