Veranstaltungen in diesem Rahmen wurde ich als junger Lieder¬
macher kreuz und quer durch Österreich geschickt. Wenn diese
Kulturveranstaltungen in Oberösterreich stattfanden, war mit
einiger Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass auch Franz
Kain als Geschichtenerzähler gebucht war. Seine Erzählungen
waren mir aus unserer Hausbibliothek, die zum Großteil aus
DDR-Bänden bestand, zum Teil bekannt. Aber das Erlebnis, ihn
selbst daraus lesen zu hören, hat sich, um einen Lieblingsausdruck
Franz Kains zu gebrauchen, in meinem Gedächtnis ‚eingebrannt‘.
Seine ‚Dankesrede für Habsburg‘ und die programmatische Er¬
klärung ‚Vom Wagnis, Geschichten zu schreiben‘ z. B. kann ich
bis heute nicht lesen, ohne dabei seine rauchige Stimme zu hören.
Erinnerung 3:
Zu diesen bleibenden Eindrücken, die schon eine Mischung aus
literarisch-politischer und persönlicher Würdigung darstellen,
kommen noch persönlichere, die — bei Franz Kain irgendwie
selbstverständlich — der politischen Dimension nicht entbehren.
Meine Mutter, Friedl Burda, hat mir jedes Mal, wenn ich nach
Oberösterreich tingelte, einen Gruß an den ‚Holzfäller Franz‘
mit auf den Weg gegeben. Noch bevor ich so einen Gruß be¬
stellen konnte, hat mich aber jedes Mal dieser ‚Holzfäller‘ nach
meiner Mutter befragt. Über diese Art Postillonsdienst habe ich
mich nicht weiter gewundert, es gab in anderen Bundesländern
auch andere Adressaten für Grüße, allesamt Teilnehmer von
KPÖ-Parteischulungen oder -konferenzen. Erst später, nach
dem Tod meiner Mutter, kam ich der Sache auf den Grund. Es
brauchte dazu die Lektüre von Kains autobiografischem Buch
‚Am Taubenmarkt‘, einem meiner spannendsten Leseerlebnis¬
se; aber geradezu aufgewühlt war ich, als ich von der ‚Hernalser
Freundin‘ von Damasus (i.e. Franz Kain) las. Das war eindeutig
ein Bericht von der Beziehung zwischen Franz und Friedl, zwei
Mittzwanzigern mit einem gehörigen Maß an Erfahrungen im
antifaschistischen Widerstand. Über den genauen Charakter die¬
ser Liaison lässt sich auch Kain nicht aus, aber sie muss einpräg¬
sam genug gewesen sein, dass einander beide Beteiligten noch
Jahrzehnte später Grüße ausrichten ließen.
Erinnerung 4:
Vor einiger Zeit habe ich das Filmporträt von Alenka Maly ‚Kain
Denkmal‘ gesehen und mir plötzlich, beim Anblick vom Ofen in
Kains Geburtshaus in Posern bei Goisern, plötzlich eingebildet,
in diesem Raum schon einmal gewesen zu sein, dort am Tisch
mit Franz Kain gesessen zu sein und seine Genugtuung gehört
zu haben darüber, dass aus mir kein ‚Gscheithaferl‘ geworden ist
und kein ‚Oaschkräuler‘. Aber, wie gesagt, es kann auch ganz wo¬
anders in Oberösterreich gewesen sein, und womöglich bin ich
nur einer von Kains ‚hochverehrten Literatoren‘, die er aufgefor¬
dert hat: „Macht keine Geschichten, macht Geschichten.“
Resumee:
Das ist also eine Geschichte. Und wie viele Geschichten im Sinn
von Franz Kain stellt sie an Leser*innen Fragen wie: „Wo nimmt
der die Geschichten her? Was hat das mit mir zu tun? Was sagt
das über heutige Kämpfe aus? Was soll ich tun?“ Ich will nur die
letzte dieser Fragen beantworten: „Lies Franz Kain, es zahlt sich
aus. Es wärmt in Zeiten politischer Kaltschnäuzigkeit.“
10. Jänner 2022
Von Rudi Burda erschien 2020 im Verlag der Theodor Kramer
Gesellschaft der Roman “Sandige Leiten, rote Saat. Widerstand im
Westen Wiens.
Hier also mein angekündigter Brief. Es geht mir um ein schweres
Thema. Aber Richard Schuberth hat mir in seiner Dankesrede
für den Theodor-Kramer-Preis einen Aufhänger verschafft. Er
schreibt in seiner Umkreisung des Begriffs Widerstand auch vom
Widerstand gegen den Kapitalismus, von der Demütigung und
dem Zwang zur Lohnarbeit und von der Ausbeutung, von der „...
sich die Maschine ernährt wie der Schimmelpilz vom Zucker...“
Schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich ja erwähnt, dass ich
den Kampf, den Du, Konstantin Kaiser, und Deine Mitstreiter/
innen mit der ZWISCHENWELT gegen das Vergessen des Un¬
rechts und der unsäglichen Grausamkeit des Naziregimes, gegen
das Vergessen seiner Opfer, gegen das Verschweigen der Vertrie¬
benen und Emigrant/innen und deren Literatur, dass ich diesen
Kampf für einen gegen die Spitze des Eisbergs Kapitalismus halte
— und dass, ich wage es aus vielen Gründen, kaum auszusprechen,
ich für nötig hielte, den ganzen unter Wasser liegenden Berg an¬
zugreifen.
In vielen Deiner Kommentare schreibst Du, dass die Nachkriegs¬
kulturpolitik die Existenz der Emigrant/innen nicht wahrnimmt.
Als würde es sie und ihre Literatur nicht geben. Es gibt aber ein
literarisches Verschweigen, zumindest aber Nichtbeachten einer
vor unser aller Augen existierenden breiten Masse von Menschen
und deren alltäglichen Arbeitsbedingungen. Ich würde fast sagen,
die Masse der arbeitenden Menschen ist in unserer Gegenwarts¬
literatur auch so gut wie unsichtbar. Und es gibt keine Kulturpo¬
litik, die an der Sichtbarmachung interessiert wäre. Da gab es ein
kurzes Aufackern in den 60er und 70er Jahren, Wallraff, Erika
Runge und den Werkkreis Literatur aus der Arbeitswelt. Dann,
nach dreißigjähriger Pause, ungefähr zeitgleich mit der „Klassis¬
mus-Debatte“ erschienen seit ca. 2016 die Bücher von Chaladon,
Eribon und bei uns Christian Baron. Zum Teil tief beeindru¬
ckende Werke, deren Grundlagen aber proletarische Arbeits- und
Lebensverhältnisse der 70er und 80er Jahre sind. Ich kenne bis
jetzt keine nichtwissenschaftliche Literatur, deren Themen oder
Handlungsorte Arbeiten und Arbeitsverhältnisse seit den 90ern
sind, oder die von Widerständen gegen diese, durch Sozialabbau,
Digitalisierung und all die vielen neuen Ausbeutungstricks ge¬
kennzeichneten, Verhältnisse erzählt.
Nach dem Ende unseres „Arbeitertheaters“ VOLKSTHEATER
KÖLN - DER WAHRE ANTON (in dem wir u.a. mit Vertrau¬
ensleuten von Ford, Opel usw. zusammenarbeiteten und für Be¬
legschaften spielten, auch Streiks erfolgreich unterstützen) habe
ich versucht, mit meinem Soloprogramm „Ischautschau Proleta¬
riat!?“ einen kritischen Diskurs anzuregen, nachdem Andre Gorz