Noch heute empört mich die Kaltschnäuzigkeit der damaligen
Konsulatsleiterin, mit der ich im Sommer 2021 mehrfach tele¬
fonierte, obwohl sie eigentlich nicht zu sprechen war. Frau Karin
R. hätte diese jungen Menschen, von denen sie natürlich wusste,
wie bedroht sie waren, ganz leicht retten können, wenn sie ge¬
wollt hätte.
Die Ablehnung erhielten wir am 10. August, am 12. August
flogen Atiq und Shabnam zuriick nach Kabul. Doch in der Nacht
zum 15. August kamen die Taliban und eroberten die afghani¬
sche Hauptstadt an einem einzigen Tag. In den nun folgenden
Tagen ereigneten sich die eingangs beschrieben Szenen. Atiq und
Shabnam, mit denen ich fast stündlich Mails austauschte, waren
verzweifelt. Nach einer schlaflosen Nacht kontaktierte ich zwei
Personen beim Schweizer SEM, dem zuständigen Staatssekretariat
für Migration. Sie halfen mir in dieser absolut chaotischen und
völlig unübersichtlichen Lage mit einer formlosen Einsprache
gegen den Bescheid der Botschaft. Ohne den unbürokratischen
Einsatz dieser beiden Personen wären die heute Geretteten tot,
nicht nur Atiq und Shabnam, sondern auch die vielen anderen,
die noch folgten.
Wie es mir schließlich gelang, das Ehepaar, das zwei Wochen
später erneut nach Pakistan einreiste, diesmal allerdings illegal
und zu Fuß über die bereits gesperrte Grenze, in die Schweiz zu
lotsen, daran kann ich mich im Detail gar nicht mehr so genau
erinnern. Jedenfalls schrieb ich in den nächsten Wochen von
morgens 5 Uhr MEZ, wenn die diversen Behörden in Pakistan
ihre Büros öffneten, bis oftmals tief in die Nacht hinein, wenn
Atiq und Shabnam mir die Ergebnisse ihrer eigenen Erkundun¬
gen sandten, vermutlich über tausend Mails. Denn nachdem die
beiden nun aufgrund der erfolgreichen Einsprache beim SEM ein
Schengen-Visum erhalten hatten, mussten sie es noch schaffen,
Pakistan rechtzeitig vor Ablauf des Visums zu verlassen — und das
ohne gültiges pakistanisches Einreisevisum, das sie bei der Ausreise
vorlegen mussten. Wenn man weiß, dass illegale Flüchtlinge in
Pakistan Verhaftung und Abschiebung riskieren, wird klar, wie
verzweifelt die Lage der beiden war.
Ich kontaktierte mehr als hundert Personen in Pakistan und in
Europa, Leute, von denen ich bei Recherchen im Internet den
Eindruck hatte, dass sie mir irgendwelche Tipps geben konnten,
wie wir schnell ein sogenanntes „Exit Permit“ organisieren konn¬
ten. Jeder sagte etwas anderes, wenn sie überhaupt etwas sagten. Es
war schwer, im Chaos der pakistanischen und Schweizer Behörden
nicht völlig die Übersicht zu verlieren. Meine per Bcc-Kopie mit¬
lesenden Kollegen vom Deutschschweizer PEN-Zentrum meinten
8. September 2021 am Genfer Flughafen bei der Ankunft von Shabnam und Atiq
später einmal, sie hätten meine täglichen, oft stündlichen Mails im
Sommer 2021 wie einen Krimi mit ungewissem Ausgang gelesen.
Doch es ging alles gut, auch dank der Entschlossenheit und des
Muts der beiden. Am 8. September landeten Shabnam und Atiq,
nachdem es noch in letzter Minute Probleme mit den Tickets
gegeben hatte, wohlbehalten am Genfer Flughafen, wo ich sie
mit meiner Tochter und einer befreundeten Übersetzerin abholte.
Danach wohnten sie zwei Wochen bei mir, bevor wir sie schließlich
ins Asylaufnahmezentrum brachten. Nach einer dreimonatigen
Odyssee durch mehrere Schweizer Asylzentren erhielten sie die
Anerkennung als politische Flüchtlinge. Seit Dezember 2021
leben sie in einer eigenen Wohnung in Winterthur bei Zürich.
Im Grunde bin ich in dieses Abenteuer hineingestolpert. Es
war zunächst ja nur der Versuch gewesen, den vorhandenen ju¬
ristischen Rahmen auszuschöpfen, um ein junges Ehepaar in die
Schweiz zu holen. Denn es gab damals keine Verordnung, die
Afghanen grundsätzlich die Einreise in die Schweiz verweigerte.
Damit, dass mich diese Einreise, aus der dann eine hochriskante
und lebensgefährliche Flucht wurde, den ganzen Sommer über
in Atem halten würde, hatte ich nicht gerechnet, als ich im Juni
mit den Planungen begann.
Eigentlich hätte die Aktion im Dezember 2021 enden können,
das im Juni anvisierte Ziel war glücklich erreicht. Doch dann
hörte ich in den Schweizer Medien von einer spektakulären Ret¬
tungsaktion des internationalen Radsportverbands mit Sitz im
schweizerischen Aigle. Gemeinsam mit einem sportbegeisterten
Lokalpolitiker und einigen Mittelsmännern in Doha war es den
Sportfunktionären im Oktober 2021 offenbar gelungen, 38 af¬
ghanische Radsportlerinnen in die Schweiz zu holen. Wie genau
sie das gemacht hatten, darüber berichteten die Medien nicht.
Doch für mich war sofort klar: es gibt — trotz der unglaublich
restriktiven Asylpolitik —- Wege und Möglichkeiten, verfolgte
AfghanInnen in die Schweiz zu holen. Und was die Radfahrer
geschafft hatten, sollten wir Schriftstellerinnen doch wohl erst
recht hinbekommen!
Diesmal war mir — im Gegensatz zu meiner Fluchthilfe für
Atiq und Shabnam — auch bewusst, worauf ich mich einließ, als
ich in den folgenden Wochen begann, unseren Plan zur Rettung
weiterer afghanischer Autorinnen und Autoren auszutüfteln. Ganz
wichtig war dabei die Unterstützung aus dem Familien- und
Freundeskreis und die Hilfe meiner Kollegen im PEN-Vorstand,
aber auch das Engagement von Atiq und Shabnam, die die di¬
rekte Verbindung zu ihren Freunden in Afghanistan herstellten
und aufrechterhielten. Mithilfe von PEN International, der uns
weitere Namen von verfolgten AutorInnen nannte, vor allem aber
auch mit der Unterstützung von über 20 prominenten Schweizer
PEN Mitgliedern, die bereit waren, das Gesuch für insgesamt
69 Personen, das ich bei den Schweizer Migrationsbehörden im
Februar 2022 einreichte, mit ihrer Unterschrift zu befürworten,
begann nun der zweite Teil der Aktion. Einige unserer PEN-Promis
waren sogar bereit, eine Art Patenschaft für einzelne afghanische
KollegInnen zu übernehmen, um den von den Behörden für die
Ausstellung eines humanitären Visums verlangten „Schweizbe¬
zug“ herzustellen.
Nach einigen Wochen kam die schr verhaltene, höflich ableh¬
nende Antwort des SEM. In dem Schreiben war aber „für weitere
Auskünfte“ die Telefonnummer eines Sachbearbeiters angeben,
den ich sodann kontaktierte. Kurz darauf begannen meine lan¬
gen, oft mühsamen, doch im Grunde erstaunlich konstruktiven
Verhandlungen mit den zuständigen Beamten, die — soweit ich