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Melitta Urbancic: Max Reinhardt! In einer dramatisch gespannten Szene wagt es ein Spieler, seiReinhardt ist ausser sich wie der Kiebitz, wenn ein Schachspieler eine interessante Situation auf plumpe Weise beendet. “Auch im Raum die Spannung wahren!” Der Raum ist für ihn so wichtig wie jeder menschliche Mitspieler. Man kann ihn nie einfach durchschreiten, als wäre er leer. In ihm schwingt der Atem jeder Handlung. Wenn sich die Spieler nur im Aug behalten, dann trennt er sie nie, wird nur verstärkendes Mittel ihrer Beziehung, ihr Resonanzboden gleichsam. Auf diese Weise kommt auch das Aug- in Augspiel zu ungeahnter Geltung, nachdem es solange durch die Vergangenheit französischer Tradition sowie durch die aktuellen Notwendigkeiten der Oper der Schauspielbühne ferngehalten war. Jetzt wird diese als Ganzes lebendig; Kein Fleck ist nur Kulisse, nichts bleibt Requisit. Keine Stellung wiederholt sich, es sei denn mit ganz bestimmter Absicht als Ausdrucksmittel für Gewohnheit, Zwang oder dergleichen. Und alles das wirkt auf die Spieler zurück, schweisst sie selber zu einer lebendigen Gemeinschaft, dem Ensemble, zusammen, bis das Spiel nur noch zum Teil aus den ursprünglichen Worten und Handlungen besteht — dazwischen schwingt als sein Wesentliches: “Der Raum — die Luft!” Wenn wahrend solcher Arbeit die Probenzeit zu Ende geht und der Saal weiter gebraucht wird, (denn nicht nur in Reykjavik herrscht Platzmangel!) dann kann Reinhardt nicht plötzlich aufhören. “Kinder, kommt schnell! Wir gehen zu mir nachhause!” “Nachhaus” das ist die alte kaiserliche Hofburg. Dort hat ihm die Stadt Wien ein paar Prachträume zur Verfügung gestellt. Und da stehen wir, etwa 20 junge Glückspilze, zwischen den hohen mit roter Seide bespannten Wänden, die goldweissen Möbel sind mit der gleichen Seide bezogen, kunstvoll gelegte Parkettböden spiegeln gefährlich glatt und in den Bogenrahmen der Fenster leuchtet das liebste Bild vom Herzen Wiens: der Burgplatz, blau vom blühenden Flieder und die Abendluft ist betäubend von seinem warmen Geruch — Vom offenen Fenster zurück in die Atmosphäre des Spiels ist kein schwerer Schritt, was immer gespielt wird — auch Träume verwandeln sich leicht, wenn der Zauber des Traums einmal wirkt. Man hat es oft versucht, Reinhardts Realistik und seine Romantik auf den gemeinsamen Nenner seiner österreichischen Heimat zu bringen, seinen gesunden Sinn für die realen, allen sichtbaren Formen des Lebens und den empfindlichen Blick für dessen feinere Farben und zarteren Schwingungen, die es erst warm und innig, traurig und zugleich lebenswert sein lassen — die scharfe Charakteristik und den unwiederholbaren Charme in seinen Gesellschaftsstücken hat man auf eine ‘Gesellschaft’ zurückgeführt, die weder ein Vorwand zum Geschäftemachen noch eine Einrichtung zur Kuppelei ist, sondern ein dramatisches Zusammenspiel der stärksten und feinsten Kräfte, durch die das Dasein reizvoll und fruchtbar wird. - Aber über diese heimatliche Bedingtheit hinaus reicht seine Hingabe an das Prinzip des l’art pour l’art (Kunst als Selbstzweck) ohne Rücksicht auf irgendein Publikum. Und gerade deshalb sein beispielloser Welterfolg bei eben diesem Publikum, das er nie in einem Wort oder einer Absicht während der Arbeit bedenkt! Weil er, ohne Eitelkeit, sich und die Welt vergisst wenn er um das innere Wesen eines Werkes wirbt, deshalb reicht dessen Wirkung so weit in die Welt hinaus — weil er sich in die Natur seiner Menschen verliebt, deshalb erscheinen sie in seiner Kunst so echt geschaut und reich zugleich, dass sie in Unzähligen gleichlebendigen Anteil wecken. Und nicht nur die Menschen seiner Bühne: Shakespeare’s Romeo und Julia beginnt mit dem Gespräch zweier Diener. Aber vorher lässt er sie an einem Brunnen wortlos die heissen Kehlen und die schwitzenden Stirnen kühlen - und damit ist die Luft erhitzt vom südlichen Frühling und die innere Glut der Handlung findet ein vorbereitetes Gefühl. - Im Sommernachtstraum ist ihm auf einer der Schlussproben der Zauberwald nicht zaubrisch genug und den Elfen fehlt eine letzte Süsse. Da steht er an der Rampe, mit gehobenem Kopf und fast geschlossenen Augen, wie ein Koch, der die fertige Speise noch einmal schmeckt, und die linke Hand fingert in die Luft, bis er hat, was er braucht. Und dann kommt es zu einer Aufführung, bei der sich im Hintergrund die Bäume tänzerisch wiegen und vor dem trunkenen Liebespaar her “zäppelt was ganz Kleines”, ein kaum dreijähriges Elflein, das durch seine Natur mehr als alle Kunst den süssen Zauber des Märchens heraufbeschwört. Dergleichen kann aber nur bestenfalls andeuten, worauf die vielgerühmte Atmosphäre von Reinhardts Bühne sich stützt. Und [...]? nicht nur seiner Bühne allein: in Wien hat er sich ein kleines Theater ganz nach eigenem Geschmack eingerichtet, (bezeichnender Weise trägt es gar nicht seinen Namen!), das kaum viel mehr Zuhörer fasst, als hier das Idno*. Aber bald hat es das weltberühmte Burgtheater, den Stolz der Wiener, an Ruhm eingeholt und überflügelt. Vom Eingang des Hauses an ist man bezaubert und entrückt, lang che die Luster, lautlos zur Decke schwebend, verlöschen und der Vorhang aufgeht. Ich glaube, auch heute noch muss in diesem Raum etwas von der vieltausendfachen Erschütterung zu spüren sein, die sich im Lauf der Jahre dort niedergeschlagen hat, ebenso wie sie in uns nie wieder ganz verebbt. Später ist dieser dichten Atmosphäre auch das Haus zu engund in Salzburg, der österreichischen Kleinstadt des Barock, tritt sie vor den herrlichen Dom unter freien Himmel. Von hier aus hat sie dann den ganzen kleinen Ort verzaubert und zur Festspielstadt der Welt gemacht — der Welt, die wieder lebendig wird mit Reinhardts Namen. Aber Max Reinhardt ist jetzt tot. Und seine Welt ist auch tot. Die Wenigen zahlen nicht, die noch lebendig von ihr wissen. Anmerkungen von Sibyl Urbancic 1 Der Text ist als Fragment erhalten, der Beginn fehlt. 2 Hier fehlt ein handschriftlich eingefügtes Wort, das nicht zu entziffern war. 3 Theater in der Josefstadt 4 Mit IDNO (isl. Iön6) ist das bis heute beliebte kleine Theater am Teich in Reykjavik gemeint, in dem vor Bau und Eröffnung des Nationaltheaters „Iheater stattfand“. Daraus lässt sich die Entstehung des Textes ungefähr datieren: Er ist vermutlich im Zeitraum vor der Eröffnung des Nationaltheaters am 20. April 1950 und nach Max Reinhardts Tod am 31. Oktober 1943 entstanden, wahrscheinlich bald nach diesem. Da der 2. Weltkrieg noch nicht zu Ende war, ist nicht sicher, dass meine Mutter die Nachricht von Reinhardts Ableben sofort erreichte. Der fehlende Anfang, eventuell mit Überschrift, könnte Aufschluss darüber geben, ob der Text möglicherweise als Reaktion auf die Meldung als eine Art Nachruf geschrieben wurde. MAI2023 21