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Harald Maria Höfinger Bei einem Gespräch über den Dichter erzählte mir der Nachlassverwalter Erwin Chvojka, er habe über Jahrzehnte direkten Blickkontakt mit dem Kramer-Land gehabt. Vom Küchenfenster im siebten Stock eines Wohnblocks in der Vorgartenstraße konnte er durch die Wiener Pforte den Michelsberg schen und sich so auf die Arbeit mit den Gedichten einstimmen. Erst 2001 nahm ihm die Errichtung eines Bürohochhauses unweit der Floridsdorfer Brücke, „Florido Tower“ genannt, die Sicht auf den markanten Hügel mit der Kapelle auf dem Gipfelplateau. Der Michelsberg zählt mit seinen 409 Metern über der Adria zu den weithin sichtbaren Erhebungen der Waschbergzone. Wie Inselberge treten die Kalkklippen zu Tage, dienen von alters her als Aussichtspunkt, Kirchenstandort, Begräbnisstätte und Steinbruch. Wall und Graben einer Wehranlage rund um das Plateau weisen auf eine bronzezeitliche Höhensiedlung hin. Die vielen Kirchen auf dem Berg Der 1388 in Haselbach am Fuße des Michelsberg geborene Geschichtsschreiber Thomas Ebendorfer berichtet in seiner „Chronica Austriae“ über sein Heimatdorf und die Geschichte der Kirche auf dem „steilen“ Berg. Aufeinem Kupferstich von Georg Matthäus Vischer aus dem Jahr 1672 ist das Schloss „Leizesbrunn“ mit der imposanten Kirche auf dem zurechtgerückten „Michelsperg“ im Hintergrund abgebildet. Grabungen und geophysikalische Untersuchungen legten die Fundamente einer romanischen, mittelalterlichen, neuzeitlichen und einer barocken Kirche frei. Zahlreiche Kleinfunde spiegeln das Leben rund um den Berg wider, entdeckte Kindergräber gehören zu einem vergessenen Friedhof. Im Zuge der Pfarrreformen und der Einschränkung der Wallfahrten unter Josef II. wurde die barocke Kirche 1785 geschleift, das Abbruchmaterial fiir den Bau einer neuen Dorfkirche in Haselbach verwendet; Altar, Kanzel und das „schwitzende“ Marienbildnis ebendort aufgestellt. 1867 errichtete man, weil die Gegend von den Plünderungen der Preußen und der Cholera verschont geblieben war, eine dem heiligen Michael gewidmete Kapelle auf dem höchsten Punkt des Berges. Der Kalksteinbruch und die Gastwirtschaft Mehrere Ansichtskarten von 1914/15 geben Zeugnis vom Gasthof und der Schotterlieferung an der Südseite unterhalb des Gipfels, weisen Alois Pascon als umtriebigen Pächter beider Unternehmen aus. Ein Foto preist den Michelsberg als Ausflugsort (mit falscher Höhenangabe), ein weiteres zeigt Gebäude und Innenhof der Gastwirtschaft. Das dritte vermittelt Lage und Ansicht des Steinbruchs. Der mit Brettern eingehauste Brecher zerkleinert das Gestein mit ohrenbetäubendem Lärm, ratternd und rumpelnd, zur gewünschten Korngröße. Pferdefuhrwerke transportieren das Material von den Schüttkegeln zum Brennofen, zu den Baustellen in den Ortschaften und zur Instandhaltung der Schotterstraßen ab. Eine weitere Karte grüßt in Wort und Bild vom Steinbruch von Nieder-Haselbach bei Stockerau, spricht werbewirksam von der Kapelle am Steinbruch und lädt zur Wanderung zum „Goldenen Bründl“ bei Ober-Rohrbach ein. Die Funkmessanlage der Nationalsozialisten Im 2. Weltkrieg betrieb die deutsche Luftwaffe auf dem Michelsberg und dem benachbarten Waschberg eine Funkmessanlage. Diese bestand aus Messbaken mit Dipolantennen, Sende- und Empfangseinrichtungen zur Bestimmung der Entfernung und einem Peilsender. Insgesamt diente die militärische Einrichtung zur Weiterentwicklung der Funkführung zu einem präzisen, nachttauglichen Flugleitsystem. Das Fotoalbum eines deutschen Soldaten, der im Sperrgebiet oben auf dem Berg gearbeitet hatte und nach dem Krieg evangelischer Pfarrer wurde, belegt die energische Aufrüstung der Nationalsozialisten. Von der Heimat in das Exil und wieder nach Hause Gut möglich, dass zur selben Zeit, als der Dichter die Verse von „Nun mähn sie unterm Michelsberg das Korn “, am 6. Jahrestag seiner Flucht aus dem Deutschen Reich in das Exil nach England, am 20. Juli 1944 schrieb, in der Tat ein Bauer die Sense wetzte, um die Frucht zu schneiden. Nun mähn sie unterm Michelsberg das Korn, die Hagebutten röten sich am Dorn; der einzige Schatten, der zu Mittag fallt, ist der des Bussards, der sich schwebend hält. Den sechsten Sommer bin ich schon verbannt, tief neigt sich mir das Haupt im fremden Land; die feuchte Lufi, die schwül oft Wochen währt, hat wie ein Umschlag ganz mich ausgezehrt. Ihr Wogen starr aus Raden, Korn und Mohn, zu nichts mehr gut ist, Sensen, euer Sohn; mich hält nur, daß ich bald euch wiederseh, ein Grab zu finden zwischen Korn und Klee. MAI 2023 29