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weniger privatistisch und neurotisch gebunden
bleiben. Ein neues „unglückliches Bewusstsein“
geht mit den Sexualdiskursen einher, es herrscht
Konfusion, ein Teil besonders der arbeitenden
Bevölkerung wird gegenüber diesen Themen
immer gereizter, betrachtet diese grellen und
teilweise performativen Auftritte, die Gender¬
debatte und alles, was in diese Richtung geht,
als Ablenkung von den wirklichen, wirtschaftlich
einschneidenden Problemen, als einen von den
Mächtigen gewollten und gesteuerten Verschlei¬
erungszirkus. Von hier ist es jedoch nicht mehr
weit zu Verschwörungstheorien. Zum anderen
zeigt sich bei der Jugend immer mehr eine Ten¬
denz zu einem nur mehr virtuellen Ausleben der
Sexualität, wenn nicht gar eine Prüderie, eine
sexuelle Unaufgeklärtheit, schon nachgerade
eine Not, die nach Orientierung sucht: und zwar
weniger sexologisch als gesamtweltanschaulich.
Dabei kommt es zu einem Rückbau des Dis¬
kurses, zu einem immer mehr unspielerischen,
immer ernsteren Verhältnis zum Sexuellen; am
Ende kann man abermals im Schoß einer tra¬
ditionalistisch verstandenen Kirche landen oder
sich gar in irgendwelchen neonazistischen dörfli¬
chen Enklaven in Ostdeutschland ansiedeln, um
im „Kinderreichtum“ und in der Mutterschaft
vermeintlich Genesung zu finden. Trotz einer
enormen Diversifikation sexueller Stile mehr auf
dem Papier und einer Verbesserung der rechtli¬
chen Situation von Sexual minorities geschieht
hinterriicks eine stramme Repatriarchalisierung
der Gesellschaft mit eindeutiger Rechtstendenz.

Diese Entwicklungen haben eine Vorgeschichte.
Ulrike Heider, Jahrgang 1947, erinnert sich an
einen Paradigmenwechsel in Sachen Sexualthe¬
orie in den universitären Seminaren:

Als in den 1980er-Jahren (ehemalige) Angehö¬
rige der Neuen Linken Georges Bataille wiederent¬
deckten und ihn — wie nur kurz vorher Wilhelm
Reich — zur Leitfigur über Sexualität erhoben,
zweifelte ich am Verstand dieser Leute. Ein Phi¬
losoph, dem die Sexualität zum Menschenopfer
wird, bei dem der Mann die Rolle des Schlächters
spielt, die Frau die seines Opfers. Ein Spezialist für
Erotik, der Todessehnsucht lehrt, sich gegen sexuelle
Freiheit ausspricht, der das religiöse Schuldgefühl
zum Movens menschlicher Lust erklärt und damit
zum Prediger eines mit heidnischen Elementen
versetzten Katholizismus wird. Was hatte die
Begeisterung für einen solchen Reaktionär unter
Linken zu suchen? Man belehrte mich, dass Ba¬
taille alles andere als ein Reaktionär gewesen sei,
sondern ganz im Gegenteil ein antistalinistischer
Linker, der zusammen mit anderen Surrealisten
eine wichtige Rolle im französischen Widerstand
gegen die Nazis gespielt habe. Angesichts dessen
und auch, weil ihm das Verdienst zukomme, der

Wiederentdecker des Marquis de Sade zu sein, habe

man genug Grund, auch seine Theorie zur Erotik
zu würdigen. Umso mehr als diese die Irrtümer
der 68er-Bewegung mit ihrer Verharmlosung der
Sexualität deutlich mache. (Heider, S. 58)

Was ist hier mit uns geschehen? Wie kam
es zur Verdiisterung der Utopie der sexuellen
Befreiung? Ulrike Heider erinnert sich autobio¬
graphisch an ihr Heranwachsen im postfaschis¬
tischen Westdeutschland der Adenauer-Zeit, an
deren unglaubliche Priiderie:

Jahrelang rätselten die Kinder, woher die Babys
kommen. Aufserehelicher Geschlechtsverkehr galt
als etwas Schmutziges, Niedriges und Ungesun¬
des, vergleichbar dem Sex im Bordell. „Schuldig
geschiedene“ Frauen galten als Huren, Prostitu¬
ierte als menschlicher Abschaum, Homosexuelle
als Kinderschänder. Lehrer und Pfarrer drohten
den Jugendlichen mit Rückenmarksschwund und
Schwachsinn als Folgen heimlicher Masturbation.
Scharfe Sittenwächter, oft mit Nazi-Vergangenheit,
versuchten durch Gesetze und Zensurmafnahmen
die Unschuld der deutschen Jugend zu hüten. Bis
1979 galt der Kuppelparagraph, nach dem sich
Eltern und Vermieter strafbar machten, wenn sie
Unverheiratete in einem Zimmer schlafen liefen.
(Heider, S. 8)

Zugleich war diese Zeit der 1950er-Jahre eine
Zeit der Doppelmoral, in der nach außen Ri¬
gidität, insgeheim bei denen, die es sich leisten
konnten, eine halbwelthafte „Möchtegern-Liber¬
tinage“ in Bordellen und Nachtbars praktiziert
wurde. Graue Eminenz ihrer Freigeistigkeit war
der heimlich gelesene [...] Marquis des Sade. (S. 8)

Angesichts solch verklemmter und verlogener
Verhältnisse war das, was heute als „sexuelle Re¬
volution“ der 1968er firmiert, längst überfällig.
Ulrike Heider, die 1984 eine beachtenswerte
Studie über „Schülerproteste in der Bundesre¬
publik“ vorlegte, erwähnt speziell „die jungen,
links politisierten Sexualrevolutionäre“:

Gymnasiasten, deren anfangs gemäfsigte Forde¬
rungen nach wertfreier Sexualaufklarung mit ver¬
stärkten Repressionsversuchen beantwortet worden
waren, verlangten von ihren Lehrern Informatio¬
nen über Verhütungsmethoden und luststeigernde
Sexualpraktiken. Es kam zu Skandalen, von denen
sich manche Kleinstadt lange nicht erholen sollte.
Linksradikale Studenten, die als Anhänger der
Kritischen Theorie einen Zusammenhang zwischen
Sexualunterdrückung und autoritären Charakter¬
strukturen sahen, gründeten zum Schrecken der
Biedermänner Kommunen und Wohngemeinschaf¬
ten, in denen sie der traditionellen Ehe, der Familie
und den herkömmlichen Geschlechterrollen andere
Wertvorstellungen und Lebensformen entgegensetz¬
ten. Sexualität, solange sie nicht unterdrückt wird,
galt ihnen als grundsätzlich gut, gesund, glücks¬
bringend und friedensstiftend. Manche glaubten,
dass ihre sexuelle Revolution eine künftige soziale
Revolution einläuten würde. (S. 9)

Wie sehr veränderte sich die Kulisse, als das
„Make love, not war“ der 1960er zwanzig Jahre
später von den grausamen Kerkerphantasien
de Sades und seiner Adepten abgelöst und die
vielberaunte „Nachtseite“ der Erotik in den
Vordergrund geschoben wurde: und zwar un¬
widersprochen. Einwände wurden abgefangen
und eingeschüchtert. Ursprünglich gerade so¬
lidarisch engagiert gewesene Studierende, die
diese modisch gewordene Kröte der erotisierten
Gewaltverherrlichung und nicht selten eines
damit einhergehenden Bellizismus (und das in
Zeiten der Friedensbewegung und der Atom¬
kriegsangst!), diese ihnen mit aller professoralen
Eindringlichkeit aufgeschwatzte und unter die
Haut geriebene Konjunktion von Sexualität
und Gewalt, ja Tod und Menschenopfer nicht
schlucken wollten, sahen sich dem Vorwurf
altbackener Lacherlichkeit preisgegeben („ex¬
posed“ würde man im heutigen BDSM-Jargon
sagen) — wer aber wollte als Spießer gelten? —,
verschleppten ihre Studien, gruben sich immer
auswegloser in diese, wechselten sie oder bra¬
chen sie traumatisiert ab. Es war oft nicht mehr
unterscheidbar, was Wiedergabe der Lehren von
de Sade, Bataille oder Ernst Jünger und was
angewandter Sadismus des Dozenten war. Dies
hatte, ganz konträr zu Habermas Leitbild des
„herrschaftsfreien Diskurses“, eine bindende
statt lösende, eine befangen und hörig machende
statt einer emanzipatorischen Kraft, die sowohl
bestrickte als auch in sich verstrickte. Mochte
man dadurch mehr getriggert als dialektisiert
werden, blieb es jedenfalls eine „Dialektik“ ohne
Aufhebung; es war fortan nichts anderes als „Ar¬
beit an der Heillosigkeit der Welt“, um einen
(allerdings auf Carl Schmitt sich beziehenden)
Titel von Ruth Groh zur Illustration zu zitieren.
Wurde nicht mit uns schlicht und einfach um¬
gesprungen, sodass wir Vorführobjekte dessen
wurden, was man mit „Kontingenz“ einbegreift:
dass aus jedem alles gemacht werden kann?

Manche der ideengeschichtlichen Zusammen¬
hänge, die Ulrike Heider in ihrem leicht lesbaren
und stringenten Buch ausführlich mit vielen
für oder besser gegen sich sprechenden Zitaten
belegt, wären besser in den 1980er-Jahren ins
Treffen geführt worden, wobei ihr Buch sich als
Antidot gegen besagte „Kröte“ bewährt hätte.
Ihr Befund ist mit aller wünschenswerten Klar¬
heit eindeutig. Sie hat mit diesem Buch einen
Gegenangriff gegen die noch immer zeitgeistige
sadomasochistische „Pornosophie“ (so de Sa¬
des Übersetzer Stefan Zweifel) unternommen,
wobei sie ohne weiteres eine außenseiterische
Position riskiert, die mit heftigem Gegenwind
rechnen darf:

Kaum ein Zeitgenosse und auch später nur
ganz wenige Kritiker haben de Sade wegen seiner

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