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Arbeit werden, zur Leidenschaft, in der die Antwort auf eine Frage zu einer alles beherrschenden, unmittelbaren Realität wird, die wichtiger ist als alles andere. Das klingt nach Obsession und kann nicht „normal“ sein. Doch ohne die obsessive Suche nach Antworten, ohne die Überwindung einer alltäglichen Gedankenroutine, ohne die ständige Arbeit an der harten Kruste der Welt, ohne Umwege und falsche Fährten, gäbe es keine Normen, die Normalität erst konstituieren, sondern bestenfalls erweiterte Instinkte. Serhij Forkosh stammt aus einem Dorf in der Karpatoukraine, jener westlichsten Region des Landes, die in der Ukraine wie früher zu Sowjetzeiten weiterhin „Transkarpatien“ genannt wird (von Mitteleuropa aus betrachtet liegt sie diesseits der Karpaten) und in fast jeder Hinsicht anders ist als der Rest der Ukraine. Es ist ein multikultureller Raum, wo neben Ukrainern vor allem Ungarn und Rumänen zu Hause sind (die einst große jüdische Minderheit wurde von den Nazis vernichtet). Bei den lokalen Dialekten handelt es sich nur sehr entfernt um Varianten des Ukrainischen. Diese sehr ländlich geprägte Region gehörte niemals zur Kiewer Rus’, zum polnisch-litauischen Staat oder zum Russischen Reich. Jahrhundertelang Teil Ungarns, nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Tschechoslowakei, im Zweiten Weltkrieg wieder ungarisch, wurde das Land erst 1945 der damals sowjetischen Ukraine zugeschlagen. Obwohl nur etwa 350 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, weiß bei uns kaum jemand etwas über dieses Land. Das ist normal; wer interessiert sich schon für osteuropäische Randgebiete oder Übergangszonen, wenn dort nicht gerade Krieg herrscht. Heute bezeichnen sich die Karpatoukrainer selbst als „Transkarpaten“ - eine eigenrümliche Identifikation als „jenseitig“, hinter dem Berg liegend und somit anders. Normal ist so etwas sicher nicht, aber aussagekräftig. Viele Transkarpaten verlassen ihre Heimat, um anderswo Arbeit zu suchen. Auch Serhij fühlt sich, seit er nach der Schule seine Region verlassen hat, „wie im Exil“. Die Karpatoukraine ist für Serhij ein magischer Ort, ein „grünes Labyrinth“ aus Wäldern, Feldern und Bergen. Der Familienname Forkosh ist ungarischen Ursprungs. Er selbst spricht nicht Ungarisch. Seine Muttersprache ist eine lokale Variante des Iranskarpatischen, eine für ihn hoch emotionale, „affektive“ Mundart, die, so behauptet er, eine große Ähnlichkeit mit dem Italienischen habe. Es ist die Sprache seiner Seele, während das Ukrainische und das Russische seine geistige und intellektuelle Entwicklung geprägt haben. Das erste Philosophiebuch, das er jemals las, war auf Ukrainisch. Er war 14 Jahre alt. Die Lektüre löste bei ihm eine unbeschreibliche Euphorie aus, obwohl er kaum etwas von dem Gelesenen verstand, und bestimmte fortan sein Leben. Serhij hat sämtliche russischen und ukrainischen Klassiker der Literatur gelesen und schwärmt vom russisch-jüdischen, aus Odessa stammenden Isaak Babel. Babel und die von Serhij gleichermaßen bewunderte russische Dichterin Marina Zwetajewa sind weltberühmt. Den 1936 verstorbenen ukrainischen Schriftsteller Wasil Stefanik, von dem Serhij ebenfalls begeistert ist, kennt bei uns hingegen kaum jemand. Er teilt das Schicksal vieler Autorinnen und Autoren, deren Lander erobert und kolonisiert wurden. Sich der Sprache der Herrscher anzupassen und in ihr zu schreiben, war „normal“ und naheliegend. Wer der eigenen, weit weniger prestigeträchtigen Muttersprache treu blieb, den bestrafte die Literaturgeschichte. Das transkulturelle Fundament bildet Serhijs Normalität, sein Ukraine-Bild ist frei von nationalistischen Wallungen und simplen patriotischen Floskeln, auch wenn er sein Land voll und ganz im Kampf gegen die russische Aggression unterstützt. Was ist die Ukraine? Für Serhij wird sie vor allem durch die ukrainische Sprache verkörpert — weich, formbar, flexibel, weil noch nicht akademisch verhärtet und normiert. „Eine Sprache der Schöpfung, die sich selbst erst im Schöpfungsstadium befindet.“ Das Ukrainische sei wie eine Flut, meint Serhij. Normalität im kreativen Chaos? „Die kontextuellen Risse in der ukrainischen Sprache geben mir die Möglichkeit, das Andere und den Anderen erst so richtig zu begreifen.“ Gibt es überhaupt Identität abseits des Abwegigen, des Ambivalenten und Mehrschichtigen? Das Normale, allzu Vorhersehbare, eine Illusion? „Der Ukrainer“, erklärt Serhij, „ist von seinem Verhalten her ein Europäer. Er ist ein politischer Mensch, am ehesten vergleichbar mit einem Bürger im alten Griechenland. Aufdie großen Probleme hat er seine eigene, oft revolutionäre Antwort parat und muss für diese einstehen und kämpfen. Er hatden Willen dazu. Darin liegt seine große Stärke.“ Gerade das unterscheide ihn aber auch von den meisten Menschen im großen Nachbarland Russland. Dass politisches Engagement und revolutionäre Veränderungen, das in Frage stellen von Normalität also, zu den Wesenszügen des europäischen Geistes gehören, ist für einen Philosophen aus der Ukraine offenbar selbstverständlicher als für eine österreichische Lokalpolitikerin. „Normal“ denkende Menschen in Russland wiederum wissen, dass es wenig Sinn hat, gegen die Obrigkeit aufzubegehren. Was der Ukraine fehle, sei das Vertrauen in ein funktionierendes politisches und rechtliches System, sinniert Serhij, ein System, das in sich so stabil sei, dass es unabhängig von den handelnden Personen an der Spitze funktioniere und trotz unterschiedlicher politischer Programme und der von den politisch Verantwortlichen gesetzten Handlungsschwerpunkte einen Faktor der Stabilität und Kontinuität darstelle. In West- und Mitteleuropa gäbe es diese systemische Stabilität, in der Ukraine tendieren die Herrschenden immer noch dazu, mit jedem Machtwechsel auch die Spielregeln zu ändern, nach denen das ganze Land regiert werde. Ich frage mich, ob Serhij wirklich recht hat, ob er unser Land und die bei uns und anderswo in Europa herrschenden Zustände nicht allzusehr idealisiert. Wahrscheinlich sind wir der Ukraine ähnlicher, als es Serhij wahrhaben möchte. „Philosophen und Politiker sind einander sehr ähnlich“, erklärt mir Serhij. „Wir beschäftigen uns mit Ideen. Die Idee eines Philosophen ist allumfassend. Der Politiker wiederum ist der Vermittler zwischen der Welt der Ideen und der Realität, die niemals ideal sein kann. Der Politiker muss einen Kompromiss finden. Ich selbst bin gegen die Forderung Platons, Philosophen sollten Politiker werden und Politiker Philosophen. Vielmehr plädiere ich für einen Dialog zwischen beiden.“ Was aber passiert, frage ich mich, wenn Politiker gar keine Ideen haben, die eine solche Bezeichnung verdienen, und jene Philosophen, die scheinbar zu einem Dialog bereit sind, nichts als Selbstdarsteller und Entertainer sind? Vielleicht steckt aber diese Frage selbst schon viel zu schr in den Niederungen der Normalität unseres Daseins fest, um noch ernsthaft diskutiert zu werden ... Mit Serhij Farkosh reden ist wie barfuß über einen steinigen Grund wandeln. Nachdenken kann schmerzvoll sein. Dies aber SEPTEMBER 2023 7