russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht
hätten, mit erhobenem Kopf weiterzuschreiten.
Aber von der Vergangenheit distanzieren‘ wollte sich nicht nur
die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft
wollte das auch.
Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller
zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf.
Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben
Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunis¬
tische Partei und ihre “Einsatztruppen” — die Geheimdienste
— wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es bloß einen
Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so
lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom
täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich
spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetztein
anderes, das aufgebaut werden will— also muss man in die Zukunft
blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt
es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird
ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben
und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur
Geschichte des Gulag.’
Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt,
dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom
Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch
von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren
und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen
Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller
Skelette, in einem Keller voller Leichen.
Verbrechen ohne Verjährung
Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grund¬
pfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Va¬
terländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Ver¬
bindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer
wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein
verbindender und einheitsstiftender Mythos.
Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die
Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen
Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich — die Menschen erin¬
nern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker
ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik
die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von
den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden
Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation,
jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit aufihre
eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande
durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Lange
Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergan¬
genheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss
uns dazu bringen, es endlich zu tun.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer
als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer
Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt
gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in
Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine
koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern — und auch
gegenüber dem eigenen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und
Menschen - eigene wie fremde — als Verbrauchsmaterial betrach¬
tet. Um Methoden dafür war der russische — und besonders der
sowjetische — nie verlegen.
In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht
exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und
Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es
noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafvertei¬
digung - der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinsti¬
tutionen als “bourgeoise Überbleibsel”. Die sowjetischen Leader
verfügten über eine “Legalität”, die zunächst revolutionär und
später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Hand¬
lung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war.
Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder
Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart
stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben.
Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt:
Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefan¬
genschaft und Zwangsarbeit, die Einziehung landwirtschaftlicher
Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten.
Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbar¬
länder, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die
Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit
und die Deportation ganzer Volksgruppen.
Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem
eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost¬
und Mitteleuropas in den 1940er Jahren — zu Beginn des Zwei¬
ten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden
Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in
Syrien angewendet — überall dort, wo Russland Gewalt ausübte.
Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
die keiner Verjährungsfrist unterliegen. Um sich davon zu über¬
zeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Straf¬
gerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.
Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffs¬
krieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen,
der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen
Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art
ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über
die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie
erst gestern begangen worden seien. Die Mehrheit dieser Län¬
der nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die
Kampfhandlungen ausgehen - vergessen wird nichts.
Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger
Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die
Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizis¬
tischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade
auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des
russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und
von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg
ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen
der Führer des russischen Staates.
Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen,
haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen ab¬
soluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche
Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie