Grades liest und man selber zu diesem Personenkreis zählt, dankt
man seinem Schöpfer, zumindest einen Moment lang, für die viel¬
zitierte Gnade der späten Geburt. Meine, wie man damals sagte,
„halbjüdische“ Mutter erhielt noch im Januar 1945 vom Bürger¬
meister der Stadt Immenhausen bei Kassel die Aufforderung, sich
und ihre Geschwister für eine Deportation bereitzuhalten. Sie war
damals gerade 16 Jahre alt geworden.
Bei der Lektüre tun sich plötzlich Analogien auf, Parallel-Ge¬
schichten, die zeigen, dass das Schicksal der eigenen Familie mit
dem anderer vergleichbar ist. Ich denke etwa an den im dritten
Band abgedruckte Bericht aus dem Oktober 1939 über den Frei¬
tod der Rica Neuburger, die sich selbst tötete, weil ihr nun auch
noch die Wohnung genommen wurde. Der Patenonkel meiner
Mutter, Josef Schloß, ein angeschener Kinderarzt in Halle an der
Saale, brachte sich 1940 ebenfalls um, weil er in ein sogenann¬
tes Judenhaus umziehen sollte. Seine Schwester Marie, die später
nach Theresienstadt verschleppt und wahrscheinlich in Auschwitz
getötet wurde, saß beim Suizid ihres Bruders noch an dessen Bett
und schrieb am folgenden Tag einen bewegenden Brief an einen
Neffen Josefs, in dem sie die letzten Stunden des Bruders festhielt.
Der noch unveröffentlichte Text hätte ebenfalls in der Edition
gedruckt werden können.
Dieses Beispiel zeigt, dass selbst 5300 Dokumente auf fast 13500
Seiten nur einen Teil dessen darstellen, was an Zeugnissen über den
Holocaust existiert. Vieles liegt noch unentdeckt in Familienarchiven
oder irgendwo auf einem Dachboden.
Eine gewisse Zufälligkeit bei der Auswahl war offenbar unvermeid¬
bar. Wenn etwa aus bekannten Editionen wie den Tagebüchern von
Anne Frank, von Walter Tausk oder den Briefen meiner Großmutter
nur einzelne Texte herausgegriften werden, geschicht das bestimmt
nach professionellen Kriterien der Herausgeber, und doch ist die
Auswahl für jene Leser und Leserinnen, die die Zusammenhänge
kennen, nicht immer nachvollziehbar. Genauso gut oder sogar
besser wäre manch anderer Auszug gewesen.
Als die ersten Bände der Edition erschienen, wurde auch das
Fehlen von Fotografien kritisiert. Ich halte diese Entscheidung
jedoch für richtig, einmal aus pragmatischen Gründen, denn eine
Bebilderung hätte den Rahmen des Machbaren vollends gesprengt,
andererseits aber auch aus Sicht der Rezipienten. Die Edition setzt
ja gerade darauf, dass die Leserinnen und Leser ihre Vorstellungs¬
kraft mobilisieren. Wer, um beim Beispiel der Wannsee-Konferenz
zu bleiben, die Ausführungen von Heydrich, Eichmann und Co.
zur sogenannten Endlösung der Judenfrage liest, ruft sich ganz
automatisch die Bilder der Ermordeten in Erinnerung, ob es sich
nun um die Opfer der Einsatzgruppen oder die Leichenberge in
Bergen-Belsen handelt.
Auch der Verzicht auf Erinnerungen und Memoiren der Überle¬
benden war gewiss keine einfache Entscheidung, Diese Texte dürften
von vielen vermisst werden, gerade wenn man die vorzüglichen
Bücher von Primo Levi, Imre Kertesz, Anita Lasker-Wallfisch, Ruth
Klüger und anderen kennt. Aber einmal davon abgesehen, dass
sich auch hier das Problem der Auswahl gestellt hätte, leuchtet es
prinzipiell ein, dass nur Echtzeitdokumente berücksichtigt wurden,
also keine retrospektiven Schilderungen.
Die Abgrenzung von Erinnerungstexten ist allerdings nicht ein¬
fach. Aufgenommen wurden zum Beispiel einige Erfahrungsberichte
über die Verfolgung von Juden in Deutschland, die erst 1940 nach
der Emigration der Betroffenen in den USA geschrieben wurden.
Es finden sich auch Vernehmungsprotokolle von KZ-Uberlebenden
aus den ersten Wochen nach Kriegsende, sehr anschauliche Texte
ohne Zweifel, aber sie hätten nach der Logik der Edition eigentlich
nicht berücksichtigt werden dürfen.
Der Wert von autobiographischen Texten ist zudem unbestritten,
bei allen Zweifeln an der Wahrhaftigkeit von Erinnerungen. In den
Einleitungen der Edition finden sich denn auch immer wieder
Verweise auf diese Texte. Im Auschwitz-Band zum Beispiel wird
ausführlich aus den Erinnerungen Lucie Adelsbergers zitiert. Die
Berliner Ärztin schilderte den Selektionsprozess an der Rampe,
die Trennung von Müttern und Kindern, so herzergreifend, dass
man unbedingt darauf zurückgreifen wollte, freilich eben nur in
der Einleitung.
Auch die bereits 1946 veröffentlichten Erinnerungen des pol¬
nischen Pianisten Wladyslaw Spilman - eine präzise Schilderung
des Alltags in dem von den Nationalsozialisten besetzten Warschau
— werden nur erwähnt, aber nicht als Dokument veröffentlicht,
obwohl sie unmittelbar nach Kriegsende aufgezeichnet wurden.
Man kann diese Entscheidungen der Herausgeber mit den Spielre¬
geln der Edition begründen, aber man kann sie trotzdem bedauern.
Viele Holocaust-Überlebende haben über Jahrzehnte mit ihren
öffentlichen Auftritten in Schulklassen, Gemeinden oder öffentli¬
chen Veranstaltungen dafür gesorgt, dass ihre Leidensgeschichten
nicht vergessen wurden, manche, wie Anita Lasker-Wallfisch oder
Margot Friedländer, tun es noch heute. In wenigen Jahren allerdings
werden auch sie nicht mehr Zeugnis ablegen können.
Spätestens dann sind Dokumente, wie sie in dieser Quellenedition
vorliegen, die letzten Beweisstiicke des Holocaust — wenn man ein¬
mal von den KZ-Gedenkstätten absieht, die freilich immer wieder
restauriert und renoviert werden müssen. Der Stacheldraht und
das Holz der meisten Lagerbaracken in Auschwitz etwa stammen
schon seit Jahren aus den Baumärkten in der Nachbarschaft der
Gedenkstätte.
Der Verzicht auf Dokumente aus der Nachkriegszeit bringt es
auch mit sich, dass einige prominente Figuren der deutschen Erin¬
nerungskultur nur eine Nebenrolle spielen. Die Briefe von Über¬
lebenden, die etwa Oskar Schindler oder Berthold Beitz für deren
Hilfe während des Krieges dankten, fehlen zwangsläufig. Beide
Unternehmer werden zwar in den Einleitungen kurz erwähnt, aber
nicht mit eigenen Dokumenten gewürdigt. Nur im 9. Band findet
sich ein Dokument aus dem September 1942, in dem die Beskiden¬
Erdölgesellschaft, deren kaufmännischer Geschäftsführer Beitz zu
diesem Zeitpunkt war, die Bereitstellung jüdischer Zwangsarbeiter
fordert, weil das Unternehmen sonst seine Tätigkeit einstellen müsse.
Das Schreiben ist nicht namentlich gezeichnet. Aber Beitz rettete
damals eine größere Zahl von Juden aus den Ghettos der Region
Boryslaw, indem er sie gegen den Widerstand der SS in seinem
Unternehmen beschäftigte und damit vor der Deportation in die
Vernichtungslager schützte. Vielleicht ging dieses Dokument sogar
über seinen Schreibtisch.
Beitz und vor allem Schindler waren zusammen mit den Wider¬
standskämpfern des 20. Juli jahrzehntelang Heroen der deutschen
Erinnerungskultur. An sie, die sogenannten guten Deutschen, er¬
innerte man sich gern, an anderes und andere dagegen cher nicht.
Deutlich wird das etwa in Walter Kempowskis kollektivem Ta¬
gebuch „Das Echolot“ - in den Jahren um die Jahrtausendwende
ein gefeiertes Großprojekt. Das Werk besteht aus vier Bänden; der
2002 erschienene Band „Barbarossa 41“ enthält Hunderte von
Aufzeichnungen aus den Monaten Juni bis Dezember 1941. Kem¬
powski hat darin zwar auch ein paar Dokumente abgedruckt, die
nun in der Edition zu finden sind. Wer Kempowskis Auswahl mit
den entsprechenden Bänden der Edition vergleicht, muss allerdings