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„Sein Geist, dem Wissen und Kunst der Antike wie der Moderne
ein stets gegenwärtiges Besitztum war, suchte rastlos nach Ge¬
setzen und nach Wahrheit. [...] Es war ihm bei seinen Schülern
weniger um die Anhäufung von Daten als um Redlichkeit und
Selbständigkeit der Arbeit zu tun.“’ Der zionistische Rechtsanwalt
Leo Goldhammer erinnerte sich daran, wie Jerusalem dem jungen
Wildgans wahrend einer Krankheit vielleicht lebensentscheidend
zur Seite stand.®

1891 habilitierte sich Jerusalem mit dem Buch Laura Bridgman.
Erziehung einer Taubstumm-Blinden; eine psychologische Studie
an der Universität Wien. Er widmete das Buch Wilhelm Wundt,
bei dem er im Juli 1891 in Leipzig studiert hatte. Seine ersten
Vorlesungen hielt er über die Psychologie des Erkennens.? Einer
seiner Hörer war der Komponist Viktor Ullmann. Weitere später
berühmte Hörer waren der Dichter Abraham Sonne" und der
Reformpadagoge Siegfried Bernfeld."!

Einige Jahre spater wurde Jerusalem auf das Werk der hochbe¬
gabten taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller
aufmerksam, mit der er in einen Briefwechsel trat. In seiner Rezen¬
sion ihrer Autobiografie in der Neuen Freien Presse lobte er die
wissenschaftlichen und humanitären Bestrebungen Amerikas,
das er niemals bereiste.'?

Moritz Schlick schrieb: „Die enorme Bedeutung solcher Fälle
für die Psychologie richtig erkannt und teilweise ausgewertet zu
haben, ist Jerusalems bleibendes Verdienst.“ '?

1891 war Jerusalem der bis 1901 bestehenden Wiener Fabier¬
Gesellschaft beigetreten und 1893 war er einer der Gründer der
Ethischen Gesellschaft.‘

Er besuchte Seminare von Franz Brentano und freundete sich
mit dem Orientalisten David Heinrich von Müller und dem
Philosophen Theodor Gomperz an. Ein enges Verhältnis ver¬
band ihn mit dem Physiker und Philosophen Ernst Mach, den
er nach dessen Schlaganfall regelmäßig besuchte und mit dem
er korrespondierte. Walther Eckstein kommentierte: „Jerusalem
war an Machs wissenschaftlicher Grundeinstellung vor allem der
konsequente Empirismus sympathisch, aus dem seine Gegner¬
schaft gegen jede Art von Apriorismus entsprang.“ Auch Mach
betonte die „Verwandtschaft seiner Grundansichten mit denen“
von Jerusalem und denen des Philosophen Adolf Stöhr. Laut
Friedrich Stadler bietet dies „weitere Indizien für ein kohärentes
Erklärungsmodell österreichischer Philosophie mit dem Problem¬
kreis Empirie-Sprache-Logik auf antimetaphysischer Basis.“ Für
Wolfgang Fritz war Jerusalem „als Philosoph dem empirischen
Psychologismus im Sinne von Mach und Wundt verpflichtet und
arbeitete auch die biologische Erkenntnistheorie ein.“

Jerusalem war auch ein Freund und Verehrer von Josef Popper
Lynkeus. In der Zeitschrift Freie Jüdische Lehrerstimme wollte er
der Menschheit zum Bewusstsein bringen, „was die Arbeit dieses
Mannes für die Ethisierung der Menschheit bedeuten kann [...].“'°

1900 unterschrieb er den von Ludo Moritz Hartmann initiierten
Aufruf zur Gründung des Volksheims in Ottakring. Er unterrich¬
tete auch an den von Hartmann eingerichteten volkstümlichen
Universitätskursen. 1902 veröffentlichte Jerusalem ein Lehrbuch
der Psychologie, dessen letzte und zehnte Auflage 1947 erschien.
1904 hielt er vor der Philosophischen Gesellschaft an der Uni¬
versität Wien die Festrede zu Kants 100. Todestag.” 1905 hielt
er eine Rede zu Friedrich Schillers 100. Todestag. '*

1907 gehörte Jerusalem zu den Gründern der Soziologischen
Gesellschaft in Wien. Er war Stellvertreter ihres Obmanns Ru¬
dolf Goldscheid. Bei der Gründungsversammlung sprach Georg

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Simmel über „Wesen und Aufgabe der Soziologie.“ Dem ersten
Ausschuss gehörten unter anderen Max Adler, Rudolf Eisler, Mi¬
chael Hainisch, Ludo Hartmann, Emil Reich, Othmar Spann,
Julius Ofner, Josef Redlich, Karl Renner und Rosa Mayreder an.”

Von 1919 bis 1924 lehrte Jerusalem auch an der von Otto Felix
Kanitz geleiteten Schule der Kinderfreunde im Schloss Schön¬
brunn; die meisten der rund 100 Absolventen waren weiblich.”

1915 widmete Jerusalem eines seiner Bücher seiner Ehefrau,
seinem lieben Kätchen, denn sie sei sein erstes Publikum und seine
erste Kritikerin.?! Daher war es nur verständlich, dass Jerusalem
auch an der sogenannten Damenakademie unterrichtete, einem
„Verein zur Abhaltung akademischer Vorträge für Damen.“ Er
gehörte dem Vorstand des Vereins für erweiterte Frauenbildung an
und verfasste 1892 den Lehrplan für das erste Mädchengymnasium
in Wien.” In einem seiner Damenvorträge sagte er:

Ferner besitzt die Frau vermöge ihrer Stellung und Aufgabe in der
menschlichen Gattung viel mehr als der Mann die Fähigkeit sich
zu opfern, selbstlos tätig zu sein für andere, sich hinzugeben für das
Glück der Ihren und ganz selig zu sein in dem Glück anderer. [...]
Die weibliche Seele besitzt eine Fähigkeit, die der männlichen gar
nicht oder doch nicht in dem Grade zukommt. Es ist die Fähigkeit
selbstloser Hingabe an das Geliebte, und zwar einer Hingabe für
das ganze Leben. [...] Entwickeln Sie, meine Damen, diese Ihnen
zum Wohle der Menschheit von der Natur verliehene Fähigkeit und
umfassen Sie die Wissenschaft mit jener selbstlosen hingebenden Liebe,
die nicht nach Erfolgen und nicht nach Gegenliebe fragt und Sie
werden bald Ihren männlichen Kollegen voranleuchten.”

1915 veröffentlichten Freunde, Verehrer und Schüler zu Jeru¬
salems 60. Geburtstag eine Festschrift mit Beiträgen von Rudolf
Eisler, Sigmund Feilbogen, Rudolf Goldscheid, Stefan Hock, Helen
Keller, Josef Kraus, Anton Lampa, Ernst Mach, Rosa Mayreder,
Julius Ofner, Josef Popper, Christine Touaillon und Otto Simon,
dem Vater von Josef (Hasi) Simon.

Wilhelm Jerusalem