OCR Output

Wir hatten nicht gerade Glück mit unseren Lehrern. Nur einer
davon war von Rang:

Wilhelm Jerusalem, der sich später durch seine Schriften zur Psy¬
chologie, zur Soziologie und zu Unterrichtsfragen weitreichendes
Ansehen erwarb und als Universitätslehrer hunderte und hunderte
in die Philosophie einführte. Jerusalem war ein Mann von unglau¬
blich ausgedehntem und dabei gründlichem Wissen; er beherrschte
die hebräische, die altklassische und die deutsche Literatur, war
auch in anderen modernen Literaturen gut zu Hause und verblüffte
immer wieder durch die Fülle der Dichterstellen, die er mühelos
aus dem Gedächtnis rezitierte: er kannte nicht nur die Bibel,
Ilias und Odyssee, eine Menge Werke von Goethe, Grillparzer,
Shakespeare mehr oder minder vollständig auswendig, sondern
auch manche abseitige Werke, wie etwa Jordans „Nibelunge“.
Sein eigentliches Gebiet war die Philosophie, besser Psychologie,
aber auch die Ethnologie beschäftigte ihn und er war ein tüch¬
tiger Mathematiker, Physiker und Physiolog.- Dabei war er ein
Lehrer, dem jeder einzelne Schüler am Herzen lag, trotz seinem
Interesse für allgemeine Fragen, und er war ein grundgütiger,

Alexander Emanuely

Wie die Zeusbüste von Otricoli
Über Valentin Pollak

Valentin Pollak kam am 13. Dezember 1871 als Sohn des Kauf¬
manns Samuel Pollak und dessen Frau Gabriele, geborene Bau¬
er, in Wiener Neustadt zur Welt. Er hatte eine ältere Schwester
namens Ida und zwei jüngere Geschwister namens Johanna und
Ludwig. Die Familie zog um 1873 nach Wien. Valentin Pollak
maturierte 1888/89 am Josefstädter Obergymnasium und studierte
anschließend an der Universität Wien „Philosophie Humanistische
Richtung“. 1895 schloss er mit einem Doktor der Philosophie
ab. 1896 folgte die Lehramtprüfung in Deutsch, Geschichte und
Geografie und 1897 der Beginn der Lehrtätigkeit an jener Schule,
an der er maturiert hatte, am Josefstädter Obergymnasium.

1900 wurde Valentin Pollak Professor an der Staatsrealschule
in Triest.

1901 heiratet Valentin Pollak Alice von Zieglmayer, Tochter
des chemaligen Verwalters der städtischen Bürgerversorgungs¬
anstalt, dem kaiserlichen Rath Gustav Ziegelmayer-Hamman,
Edler von Hollenfeld. Valentin Pollak ließ sich, um heiraten zu
können, taufen. Die Hochzeit fand am 11. Februar 1901 in der
evangelischen Stadtkirche in der Wiener Dorotheergasse statt.

Alice von Zieglmayers Schwester war mit dem späteren Polizei¬
präsidenten und Bundeskanzler Johann Schober verheiratet. Wie
man in Pollaks Erinnerungen erfährt, war es der Schwiegervater
Pollaks und Schobers, der letzterem, einem gelernten Juristen, eine
Anstellung beim Wiener Magistrat und dann bei der Polizeidirekti¬
on verschafft hat. Pollak bezeichnet ihn als einen der „Totengräber
Österreichs“ und fügt hinzu, dass er ihn nachhaltig „hasst“.

Valentin und Alice Pollak hatten drei Kinder, darunter Tochter
Ilsa, welche als Erwachsene unter dem Namen Ilsa Barea-Kulcsar
eine bekannte Schriftstellerin und Revolutionärin werden sollte.

reiner Mensch. Trotzdem muss ich gestehen, dass er auf uns, auf
mich wenigstens, nicht den Eindruck machte, den man erwarten
sollte.- Er unterrichtete uns zunächst in Griechisch; aus irgend
einem Grund aber kam er nicht zu Beginn, sondern während des
ersten Semesters der fünften Klasse zu uns, von einem kleinen
mährischen Gymnasium. Er war ein noch junger Mann, groß
und hager, hielt sich schlecht, und schon die Kleidung verriet
den Gelehrten, ebenso sein fein geschnittenes Gesicht mit der
langen Nase, von unverkennbar jüdischem Typus, aber interessant
und anziehend. Es war von einem großen roten Bart und roten
Haaren umrahmt, die oft etwas wirr in die Hoehe standen; das
Augenglas saß immer schief auf der Nase. Zu der auffallenden
Erscheinung kam eine Redeweise, die für Wiener Ohren einen
leicht boehmischen Anklang hatte, bei erregtem Sprechen stieg
die Stimme stark an, immer ging er dabei vor den Bänken auf
und ab. Es ist nicht zu leugnen, er kam uns komisch vor; dabei
hatten wir bald heraus, dass dieser Mann über der Begeisterung
für seinen Gegenstand beinahe vergaß, mit wem er es zu tun hatte.

1902 kam Valentin Pollak zurück nach Wien, wo er bis 1920
„wirklicher Lehrer an Staatsmittelschulen“ in Wien, am Staatsgym¬
nasium Wien 3 in der Sofienbrückengasse, heute Kundmanngasse
war. Weiters unterrichtete er vier Stunden die Woche an der Schule
Eugenie Schwarzwalds, dem Mädchen-Lyzeum am Kohlmarkt,
deutsche Literatur. Auch hielt Valentin Pollak regelmäßig Vorträge
vor wissenschaftlichen Vereinen wie dem Wiener Goethe Verein
oder dem Schillerverein „Die Glocke“.

1906 kam die gemeinsam mit Franz Jelinek und Franz Streinz
verfasste didaktische Anthologie Deutsches Lesebuch für österreichische
Gymnasien und Realgymnasien heraus. In dieser Anthologie waren
auch zeitgenössische AutorInnen vertreten, die damals der Jugend
eher noch vorenthalten wurden. Man fand in dem Lesebuch Beiträge
von Marie Ebner-Eschenbach, Ferdinand Saar, Gottfried Keller,
Richard Dehmel, Detlev von Liliencron, sowie einen Nachruf auf
den Arzt Hermann Franz Müller, der 1898 in Wien an der Pest
starb, deren Ausbruch er noch verhindern konnte. Die Anthologie
gehörte zur Pflichtlektüre mehrerer Generationen von Mittelschü¬
lerInnen und erfuhr mehrere Neuauflagen. Eines der Hauptthemen
Valentin Pollaks war die politische Dichtung im Vormärz. So gab
er 1907 eine kommentierte Schulausgabe von Anastasius Grüns
Schutt heraus. 1912 war er Mitherausgeber eines Geschichtsbuches
für die Unterklasse und 1917 einer Anthologie für den Unterricht
in Heftform mit dem Titel Aus dem großen Kriege.

Valentin Pollak war 1910 Gründungs- und Vorstandsmitglied
des „Reichsvereins für Mittelschullehrer“, einem landesweiten
Dachverband.

Nach der Gründung der Republik engagierte sich Valentin
Pollak in der SDAB, schrieb viele wissenschaftliche Beiträge für

SEPTEMBER 2023 35