»Aufgeht’s, Leutel«, rief er fröhlich, kam auf uns zu und spuckte
aus. Sein Gesicht war rot, seine Bewegungen ruckartig.
Temur und ich zogen uns rasch an. Die nassen Unterhosen
waren unangenehm kalt.
»Geh zum Auto, ich muss noch pinkeln.« Onkel Sawik warf
mir die Schlüssel zu und entfernte sich ein paar Meter.
"Temur sammelte unseren Müll ein.
Ich war etwas wackelig auf den Beinen und schaffte es erst beim
dritten Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ich ließ
mich auf den Vordersitz fallen, schloss die Augen und versuchte,
den Sturm in meinem Kopf zu beruhigen. Mit großem Radau
stiegen mein Onkel und Temur ein.
»Sind Sie sicher, dass Sie fahren können?«, fragte Temur vor¬
sichtig.
»Keine Angst, Kleiner, ich habe nicht so viel getrunken«,
schnauzte ihn mein Onkel an und startete den Motor.
Mir fielen die Augen zu. Ich bereute, dass ich mich nicht aufden
Rücksitz gesetzt hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe,
nach dem ersten Schlagloch setzte ich mich wieder aufrecht hin.
Mein Onkel brachte Temur nach Hause, zum Abschied rief er
ihm zu: »Grüß deinen Vater«, dann fuhren wir weiter.
Meine Tante roch sofort, dass wir getrunken hatten. Sie verpasste
mir eine Ohrfeige und befahl mir auf mein Zimmer zu gehen.
Meinen Onkel schickte sie in die Küche. Ich hatte Mitleid mit
ihm. Kurz lauschte ich noch an der Tür und hörte, wie Tante
Lidka ihren Mann beschimpfte, dann ging ich zu Bett.
Am Morgen erwachte ich, weil Tante Lidka über mir stand und
an meinen Armen zerrte.
»Hast du das Geld genommen? Gib zu, warst du das?«
Ich verstand nicht, wovon sie sprach. Ihr Gesicht war vor Wut
verzerrt. Mein Onkel schaute mit seinem typisch schuldbewussten
Blick hinter ihr hervor. Ich hielt beide Arme schützend um meinen
Kopf. Es schien mir, als ob Tante Lidkas Schreie endlos in meinem
Schädel widerhallten.
»Was wollt ihr von mir?«, stöhnte ich und setzte mich auf.
»Gestern ist das Geld für die Äpfel aus dem Auto verschwunden.
Hast du das getan?«
Ich saß mit offenem Mund da und brachte kein Wort heraus.
Schließlich sagte ich:
»Nein ...«
»Ich wusste es!« Meine Tante war mir so nah, dass mich ihr
Speichel erwischte. »Dieser kleine Scheißer, den du zum Apfel¬
pflücken mitgenommen hast, hat es eingesackt!«.
Onkel Sawik sank zusammen und ließ die Schultern hängen.
»Los geht’s!«, befahl meine Tante. »Mach du dich auch fertig«,
rief sie mir zu.
Zu dritt machten wir uns auf den Weg zu Temurs Hof. Meine
Tante voran. Ihr Rock flatterte heftig hin und her und brachte
ihre Wut zum Ausdruck. Als sie das Tor erreichte, schlug sie mit
der Faust dagegen.
»Bulat, komm raus!«, schrie sie.
Mein Onkel versteckte sich hinter ihr, ich mich hinter ihm.
Der Riegel wurde zurückgeschoben und das Tor öffnete sich.
Bulat trat in rot befleckter Kleidung heraus und wischte sich die
Hände an einem Lappen ab.
»Entschuldigt meinen Auftritt, ich habe eben einen Schafbock
geschlachtet.«
Als ich begriff, dass das Rot an seiner Kleidung Blut war, musste
ich mich beinahe übergeben. Auch meine Tante erstarrte für einen
Moment, aber sie fasste sich schnell wieder und begann voller Wut:
»Dein Junge hat gestern das Geld für die Äpfel gestohlen! Er
hat es aus dem Handschuhfach genommen, als sie ans Meer ge¬
fahren sind!«
»Temur? Das kann nicht sein.« Der Mann schaute nicht auf
Tante Lidka, sondern auf seine Hände und wischte sich vorsichtig
das Blut ab.
»Ruf ihn und frag ihn selbst!«
Bulat rief nach Temur. Der kam sofort, blickte uns erstaunt der
Reihe nach an und versuchte mir in die Augen zu sehen. Ich aber
starrte auf meine schmutzigen Flip-Flops.
»Lidija-Chanym behauptet, du hättest gestern Geld genommen?
Hast du jemanden bestohlen?« Bulats Stimme war ruhig.
Pause.
»Nein, Vater, das war ich nicht.«
»Natürlich warst du es! Du lügst! Du hast es gestohlen! Es gibt
sonst niemanden, der es nehmen hätte können«, schrie Tante
Lidka hysterisch.
»Mein Sohn sagt, er war es nicht. Und ich glaube ihm.«
Ich schaute Bulat verstohlen an. Er warf mir einen gefährlichen
Blick zu und ich zog mich noch weiter hinter meinen Onkel zurück.
Die Tante schrie und schleuderte Beleidigungen um sich.
»Wieviel?«, unterbrach Bulat sie.
Als ob sie es nicht gehört hätte, schrie sie weiter.
»Wieviel brauchst du, um von meinem Sohn abzulassen?«
Mein Onkel spuckte aus. Tante Lidka nannte den Betrag. Bulat
ging schweigend ins Haus und holte das Geld. Temur stand die
ganze Zeit mit erhobenem Haupt da.
»Hier nimm es. Und vergiss den Weg zu diesem Haus«, Temurs
Vater drückte meiner Tante das Geld in die Hand, zog seinen
Sohn in den Hof und schlug das Tor zu.
Tante Lidka drehte sich mit offenem Mund entgeistert zu uns
um.
»Habt ihr gesehen, wie frech die waren! Diese Diebe! Wir sind
gut zu ihnen und sie... Man sagt ja nicht umsonst: Tataren sind
Barbaren!«
Sie schüttelte den Kopf, nahm den Arm meines Onkels und
ging Staub aufwirbelnd davon. Ich schlurfte hinterher.
Ich fühlte mich so schlecht wie noch nie in meinem Leben.
Am Abend wurde ich mit dem verdienten Geld nach Hause
geschickt. Ein paar Tage später kaufte ich Antochas Roller. Die
leuchtend rote Karosserie, die vom Vorbesitzer vor dem Verkauf
poliert worden war, verblasste und verrostete mit der Zeit. Der
Roller verschwand bei uns im Garten unter einer Abdeckung.
Ich fuhr nie damit. Jeden Herbst fielen die Äpfel von unserem
alten Antoniwka-Baum, rollten gegen die Räder des Rollers und
erinnerten mich an die Woche auf der Krym.
KK
Und nun hatten mich die Apfel in diesem gottverlassenen Ob¬
stgarten im Donbas wieder dorthin zurückgeführt...
KK
»Wir haben den 200er! Tramontana ist Fracht 200! Warte,
Scheiße, ich glaube, da ist ein Puls ... Ja! Da ist einer! Er ist am
Leben! Legt ihn da rein. Nicht in die verdammten Apfel, verflixt!
Oh, Tramontana ... Stirb bloß nicht, hörst du? ... Hörst du,
stirb nicht, Romka ... Stirb nicht ...«
Aus dem Ukrainischen von Ganna Gnedkova und Peter Marius
Huemer.
Die Kosten der Übersetzung wurden von der Kulturvermittlung
Steiermark getragen. Lektorat: Doris Mayer