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am Boden zum Zerbrochenen kriechen. Karbol wird auf die Abfälle hinter den Fabriken und Schlachthäusern geschüttet, um sie zu vernichten, die Menschen essen trotzdem und werden krank, manche überleben. Wälder und Teiche werden totenstill, alles, was gegessen werden kann, ist gegessen: Katzen, Nagetiere, Vögel, Froschlaich. (Aufgrund der fehlenden Katzen und Vögel sollte sich später eine Mäuseplage entwickeln.) Als die Brigadisten sehen, dass die Menschen die jungen Wurzeln von Schilf essen, brennen sie es nieder. '® Mitten im Winter werden Menschen nackt aus ihren Häusern geworfen und die Häuser zerstört. Manche werden wahnsinnig vor Hunger, manche wahnsinnig vor rasender Trauer. Einer Mutter sterben binnen drei Tagen alle sechs Kinder. Sie hört auf, Kleider zu tragen und sagt jedem, der „rote Besen“ habe ihre Familie weggebracht.'” Im Frühjahr 1933 ist der französische Schriftsteller Georges Simenon in Odessa. Er hört einen Mann über die „Unglücklichen“ sagen: „Das sind Kulaken, Bauern, die sich nicht dem Regime angepasst haben. ... Denen bleibt nichts als zu sterben.“ Sie würden bald durch Traktoren ersetzt werden. Für so viele nutzlose Leute sei kein Platz.!* Dann werden die Städte von denen „gesäubert“, die es vor oder trotz der Sperrtrupps geschafft hatten, vom Land in eine Stadt zu kommen: „Die Polizei holte Dorfbewohner aus diesen Schlangen [Brotschlangen], lud sie auf Lastwagen und fuhr sie aus der Stadt.“ Die Erschöpften verhungern irgendwo an den Straßen.!? Während des Hungermordens an den Bauern gingen die Deportationen weiter — es war die Zeit des Hungermordens, in der sich das Zwangsarbeitssystem des GULAG verdoppelte - (manche Bauern haben überlebt, weil sie deportiert wurden) - und die sowjetische Geheimpolizei vernichtete die ukrainische Elite: Auf Schauprozesse folgte Deportation und Hinrichtung von SchriftstellerInnen, MalerInnen, LehrerInnen, Priester, Architekten, Sprachwissenschaftler, und die „Säuberung“ der ukrainischen KP. Viele Rotarmisten aus der Ukraine erhielten 1933 keine Briefe von Zuhause (abgefangen, vernichtet, zurückgehalten). Es war, als wären ihre Familien plötzlich weg. Öffentliche Trauer war unmöglich, über den Holodomor durfte nicht gesprochen werden. Es gab keine Grabsteine, die meisten Kirchen waren zerstört. Das Trauma der Überlebenden: Ein schwarzes Loch, in dem Menschen verschwunden waren. Während des Holodomor exportierte die Sowjetunion neben all dem Getreide aus der Ukraine außerdem weitere Lebensmittel für Technik aus dem Ausland: Allein aus der Ukraine 3500 Tonnen Butter und 586 Tonnen Speck im Jahr 1932. Noch mehr im tödlichsten Jahr des Holodomor 1933: 5433 Tonnen Butter, 1037 Tonnen Speck. In beiden Jahren exportierte die Sowjetunion außerdem: Eier, Geflügel, Äpfel, Nüsse, Honig, Marmelade, Fisch-, Fleisch und Gemiisekonserven.” In diesen Jahren verhungerten in der Ukraine mehr als 3,9 Millionen Menschen, davon 3,5 Millionen am Land. Dazu kamen 600 000 verlorene Geburten - Schwangere, die verhungerten. Fiir die Sowjetunion insgesamt geht Applebaum von mindestens 5 Millionen Menschen aus.”! Anna, die Schwester meines Großvaters mütterlicherseits, hütete als Mädchen eine Kuh. Ihre Mutter — deren Lehrer wollte, dass sie weiter lernen und Lehrerin werden könnte — hatte neben der Kuh ein paar Schweine und einen Hasenstall, dazu ein paar Felder, wo sie Zuckerrüben und Erdäpfel pflanzte. Im Winter half sie in der Tischlerwerkstatt ihres Mannes. Annas beste Freundin war die Tochter des Bauern mit dem größten Haus, sie hütete zehn Kühe. Eines Tages missverstanden sie etwas und ließen ihre Kühe auf einem Feld grasen, was sie nicht hätten tun dürfen. Annas Freundin fürchtete sich danach am meisten vor einer Strafe: „Du hast ja nur eine Kuh, aber ich hab zehn!“ „Wir waren ja arm“, sagte Anna zu mir und Konstantin Kaiser, als wir vor ein paar Jahren in ihrem Garten saßen. Mein Opa väterlicherseits, der Heimatdichter, der eigentlich studieren wollte, aber dessen Vater es ihm als einzigen Bauernsohn verboten hatte, war nie gern Bauer gewesen. Trotzdem hat er, als er mir seine Schwarz-Weiß-Fotografien zeigte, am liebevollsten von Liesl gesprochen. Liesl war das Arbeitspferd. Als er sich einen Traktor kaufte, musste er Liesl verkaufen, der Betrieb war verschuldet. Das Foto von der „letzten Ausfahrt mit Liesl“ ist eines der schönsten, Opa wirkt darauf zugänglich. Ich glaube, es ist die einzige Fotografie, die nicht gestellt ist. Ich weiß nicht, wie viele Tiere seine Eltern am Hof gehabt haben, jedenfalls Kühe, Schweine, Hühner und das Pferd. Lebten sie 1932 und 1933 Ukraine,wären sie allesamt als Kulaken bein der zeichnet worden und vermutlich umgekommen. In der Sowjetukraine konnte man nicht nicht davon wissen. „In der Zentral- und Ostukraine, dank ihrer fruchtbaren Schwarzböden und reichen Ernten als ‚Kornkammer Europas‘ bekannt“, war „zum ersten Mal seit Jahrhunderten“ eine Hungersnot ausgebrochen”. Die organisierte Verleugnung außerhalb und innerhalb der Sowjetunion aber hatte bereits eingesetzt, bevor die "Todesrate am höchsten war. Wie 2022 und 2023 spielten auch damals Eitelkeit und Bestechlichkeit von Leuten eine Rolle, die berühmt waren, wie der 1932 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete britische Journalist Walter Duranty, dem Stalin Exklusivinterviews gewährte. Sein verlogener Artikel vom 31.3.1933 in der „New York Times“ beeinflusste Roosevelt. Duranty „kultivierte die Rolle des nüchternen und skeptischen ‚Realisten‘, der beide Seiten einer Geschichte hören wollte.“ Die zuvor erschienenen Augenzeugenberichte des jungen walisischen Journalisten Gareth Jones, der bei Charkiw heimlich durch 20 Dörfer und Kolchosen zu Fuß gewandert war, oder von der in Polen geborenen Kanadierin Rhea Clyman hätten große renommierte Verteidiger gebraucht, die sie nicht bekamen. Die europäischen Außenministerien waren trotzdem bestens informiert. Der italienische Konsul aus Charkiw, der deutsche Konsul, polnische Diplomaten berichteten wahrheitsgetreu, ebenso britische. Der Vatikan wusste aufgrund der Fotos Bescheid, die der österreichische Ingenieur Alexander Wienerberger heimlich in Charkiw 1933 aufgenommen hatte, als rund um ihn herum die Menschen vor Hunger zu sterben begannen. Den Vatikan erreichten auch aus der Ukraine geschmuggelte Briefe, wie jener anonyme: „Man muss hier leben, um das Ausmaß der Katastrophe zu verstehen und zu glauben.“ Alexander Wienerbergers Fotos, die er mit der Diplomatenpost aus der Sowjetunion schmuggelte, können im Diözesanarchiv in Wien angesehen werden. Ein Foto, das ich, nachdem ich es zum ersten Mal gesehen habe, nicht mehr werde vergessen können: drei Frauen auf einer Brache, Frühjahr 1933, zwei Frauen liegen, eine davon ist älter. Eine sitzt. Die zweite Liegende ist ein minderjähriges Mädchen oder eine junge Frau, sie hat ihren Kopf in den Schoß der Sitzenden gelegt. Diese ist über sie gebeugt und streicht mit einer Hand über ihren Kopf.” International wurde geschwiegen. Der Vatikan hatte Angst, von Hitlers Propaganda missbraucht zu werden. Die Berichte der polnischen Diplomaten waren so erschütternd, dass sie deswegen in Zweifel gezogen wurden. Manche Regierungen wollten die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nicht gefährden, andere waren an der kommunistischen Ideologie interessiert und wollten glauben statt wissen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte eine Sprachänderung durch den Kreml mit sich: In der Sowjetukraine waren Kritiker der UdSSR nun „Faschisten“ oder „Nazis.“ Jede Erwähnung der Hungersnot: „Hitler-Propaganda.“ Jeder zehnte Mensch in Kanada hat ukrainische Vorfahren, erfuhr ich am „Folklorama“ Festival in Winnipeg, wo mir schéne Trachten mit Blumen aufgefallen waren. Als ich mit meinem damaligen Lebensgefahrten, einem Fernfahrer, 2006 nach Kanada ausgewandert war, lebten wir in Winnipeg, der SEPTEMBER 2023 89