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Verhältnisse, denn der Monat Juli ging mit 12 Bootstransporten mit insgesamt 107 Personen zu Ende.’ Im folgenden August sah sich der Präfekt von Imperia gezwungen, wenigstens förmlich die Politik der Zwangsrepatriierung anzuwenden. Den Flüchtlingen wurde die Anordnung zur Kenntnis gebracht, sich binnen fünf Tagen an die Grenze der Einreise zu begeben. Das Verfahren sah aber nicht vor, daß sie von Polizeibeamten dorthin begleitet wurden. Tatsächlich konnten sich viele im Grenzgebiet verstecken und von sich aus die Überquerung der Grenze versuchen. Wir werden ihnen in großer Zahl bei den folgenden Bootstransporten begegnen. Wie zur Bestätigung dessen nahm die Polizei in San Remo, die keine Kenntnis von den illegalen Transporten hatte, am 4. August ungefähr 40 Juden fest, die sich gerade im Hafen einschiffen wollten. Es stellte sich heraus, daß fast alle von ihnen aus Wien stammten und mit dem Touristenvisum über den Grenzübergang bei Tarvisio eingereist waren. Im selben Monat erreichte der Exodus seinen Höhepunkt: In der Tat wurden 28 Transporte auf dem Seeweg durchgeführt, bei denen durch die Verwendung von Motorbooten die Zahl der beförderten Juden beträchtlich gesteigert werden konnte." Die französischen Behörden waren über die Ankunft ständig neuer Flüchtlinge aufgebracht und unternahmen deshalb auch diplomatische Schritte. Am 12. August ließ die Französische Botschaft in Rom dem italienischen Außenministerium eine in energischem Ton gehaltene Protestnote gegen die vielfachen Grenzverletzungen zukommen, durch die es aufgefordert wurde, für eine Beendigung der Infiltration zu sorgen." Die Lage an der Riviera wurde zusätzlich durch den Ausbruch des Krieges Deutschlands gegen Frankreich kompliziert, denn Frankreich fürchtete, daß auch Italien in den Konflikt eintreten könnte. Fortan bildeten die französischen Militärpatrouillen vor der Küste ein unüberwindbares Hindernis für alle Fluchtversuche auf dem Seeweg. Gleichzeitig schritten die französischen Behörden zur Internierung der als „feindliche Ausländer“ bezeichneten deutschen und österreichischen Juden in Lagern an der Cöte d’Azur und in der Provence. Weit mehr noch als das oftmals erfolgreiche Vorgehen der französischen Polizei in den vorangegangenen Monaten hatte die Internierung zur Folge, daß die illegalen Transporte zum Erliegen kamen. Auf Grund der politischen und militärischen Entwicklung beschloß der Präfekt von Imperia, die noch in seiner Provinz anwesenden Juden an die Grenze der Einreise zu stellen oder sie in den meisten Fällen zur Quästur ihres letzten Wohnsitzes in Italien zu schicken.” Doch ganz im Gegensatz dazu richtete Hugo Winkler noch einen Monat später, am 25. September 1939, im Namen von 320 in Ventimiglia hängengebliebenen Juden einen verzweifelten Appell an den französischen Staatspräsidenten Albert Lebrun, mit dem er um ihre Aufnahme in Frankreich aus menschlichen Gründen bat.' Die Juden in Ventimiglia warteten vergeblich auf eine Antwort und wurden von der Polizei gezwungen, die Stadt zu verlassen. Auch die „Schiffahrtsagenturen“ waren sich der augenblicklichen Schwierigkeiten bewußt und hielten die Fluchtbewegung für abgeschlossen. Sie verfügten über eine Organisationsstruktur und eine ungenutzte Flotte, deren Beibehaltung sich nicht lohnte, und zogen es deshalb vor, um das investierte Kapitel wieder hereinzuholen, die Boote an Juden zu verkaufen, die mit ihnen die Grenze überwinden wollten. Im Oktober 1939 wurden nur zwei Transporte durchgeführt, aber im Dezember war ein leichter und beständiger Anstieg der Einschiffungen zu verzeichnen. In den ersten Monaten des nächsten Jahres ließ, nach einer Zeit des vollständigen Stillstands der Transporte, die französische Küstenüberwachung nach, was die jüdische Hilfsorganisation Delasem in Genua, die an die Stelle des aufgelösten Comasebit getreten war, zu neuen Fluchtversuchen auf dem Seeweg ermutigte. Der Schauplatz der Einschiffungen verlagerte sich nach San Remo und Alassio. Nunmehr wurden große Motorboote verwendet, die viele Flüchtlinge an Bord nehmen konnten. Fast alle Transporte wurden erfolgreich im Rhythmus von je einem Monat abgewickelt (nur auf den April entfielen drei Transporte). Der letzte ist im Mai 1940 bekannt. In der Anfangsphase erfolgten die Einschiffungen am Küstenstreifen zwischen Ventimiglia und der italienisch-französischen Grenze, und zwar vor allem an den kleinen verborgenen Stränden von Latte und Grimaldi. An diesen Stellen war die Einschiffung leicht durchzuführen. Die vorgesehenen Zollkontrollen wurden hier von den Beamten der nahegelegenen Zollstation an den Balzi Rossi vorgenommen. Im Sommer 1939 verlegten viele Fischer die Einschiffungen in das nahegelegene Bordighera, zumal an die Bucht Bagnabraghe und in die Gegend um den alten Hafen, sowie an die Foce, einen Ortsteil von San Remo. Zur Einschiffung bevorzugten die Fischer mondlose Nächte. Die Boote verließen die Küste in westlicher Richtung, mit ausgeschalteten Signallichtern und unter Benützung der Ruder, um keinen Verdacht zu erregen. Sobald die Boote jenseits der Grenze waren, fuhren sie in internationalen Gewässern vier bis fünf Meilen vor der Küste entlang und nahmen erst Kurs auf'sie, nachdem die zur Landung vorgesehene Stelle ausgemacht worden war. Die Landungsmanöver erforderten große Umsicht: Die Bootsführer und Fischer stellten nach aufmerksamer Erkundung der Küste den Motor ab und ruderten an Land. Der „Transportunternehmer“ Mario Toselli Mario Toselli arbeitete zu der Zeit als Bote im Hotel Torino nahe der internationalen Bahnstation von Ventimiglia. Er besaß Einfühlungsvermögen und ein bemerkenswertes Organisationstalent und erkannte sofort, daß sich ihm durch den Exodus der Juden große ökonomische Möglichkeiten boten.'* Am 8. März 1939 wurde er in Menton von der französischen Polizei verhaftet, als er gerade einen ingeniösen Plan der Zusammenarbeit von italienischen und französischen Fischern zur Durchführung von Flüchtlingstransporten in die Tat umzusetzen suchte. Er wurde der Begünstigung der illegalen Einwanderung angeklagt und zu einem Monat Gefängnishaft verurteilt. Nach seiner Entlassung gelang es ihm in kurzer Zeit, in Ventimiglia eine effiziente, über das Grenzgebiet verzweigte „Schiffahrtsagentur“ aufzubauen, die binnen kurzem geradezu eine Monopolstellung einnahm. Sie hatte ihren Sitz im Hotel Torino, wo Toselli persönlich mit den Juden auf der Durchreise über den für einen Transport zu entrichtenden Betrag verhandelte. Er stützte sich auf ein Netz von „Agenten“, unter ihnen auch einige ausländische Juden, die eifrig die von den Flüchtlingen bevorzugten Pensionen und Cafes aufsuchten und ihnen dort dank ihrer Sprachkenntnisse Vorschläge für die Überfahrt machten. Toselli revolutionierte die Transporte, denn er ahnte das Potential der Motorisierung auch in ökonomischer Hinsicht. Auf ihn ging es zurück, daß die überholten Ruderboote durch Motorboote ersetzt wurden. Da diese am westlichen Ende der ligurischen Küste nicht leicht aufzutreiben waren, erwarb er sie in der benachbarten Provinz Savona. 41