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te, abreisen. Was hatten wir in den Jahren des Exils über die¬
sen schmalspurigen Zug, den wir nicht benutzen durften, und
über die ihn schnaufend antreibende Lokomotive, die wir Kaf¬
feemühle nannten, gelacht! Aber die zahlreichen Tunnels der
Calabro-Lucana — so hieß die Bahn — waren ein Segen als Luft¬
schutzunterstände und Verstecke, als der Krieg dann auch bis
zu uns kam, und so gewann die komische Bahn einen tieferen
Sinn, als das Leben seiner Beschaulichkeit beraubt wurde und
man zu empfinden begann, daß der Tag des Gerichtes nahte.
Die zutiefst deprimierten Internierten von Spezzano bereiteten
sich auf die Abreise vor. Aber am 25. Juli, am Vorabend ihres
Auszugs, geschah etwas so Unerwartetes und Unerhörtes, etwas
so Einschneidendes, Umwälzendes, ja Unfaßbares, das einem
so richtig ins Bewußtsein rief, in welch ungewöhnlicher Zeit man
damals lebte. Anläßlich einer Sitzung des Großen Rats, des ober¬
sten Machtgremiums des faschistischen Staates, war Benito
Mussolini überstimmt, gestürzt und verhaftet worden. Die
Staatsgewalt befand sich wieder in den Händen des Königs, der
sie vor so vielen Jahren unter Druck dem Duce delegiert hatte.
Italien war im Taumel. Auf die Überraschung folgten Momente
des Zweifels: Wer hätte wohl Mussolini absetzen oder gar ver¬
haften können? Diesen stählernen Mann, gefestigt durch den
stählernen Pakt mit Hitler. Er, die verkörperte Nation, Monstrum
und Held - er, von dem es hieß, daß er immer Recht habe: „Il
Duce ha sempre ragione!“ Der Diktator, der seinem Volk zwan¬
zig Jahre nur drei Wege, drei Möglichkeiten gezeigt hatte: ,,cre¬
dere, obbedire, combattere“ (glauben, gehorchen, kämpfen) und
mit dieser Parole Italien ins Unheil führte, aus dem es keinen
Ausweg zu geben schien. Aber es stimmte! Die ernste, ja fei¬
erliche Stimme aus dem Radio beseitigte alle Zweifel: Der
Ansager verlas den königlichen Erlaß, der das Ereignis bestätigte.
So war er doch wirklich gefallen, dieser größenwahnsinnige
Verführte, der das Bündnis mit dem Teufel geschlossen hatte,
für den sein Volk verblutete und seine Städte zerbarsten in ei¬
nem verhaßten Krieg an der Seite der gehaßten Deutschen! Als
sich die Überraschung gelegt hatte, wurde der Freudenausbruch
gigantisch. Der Krieg ist aus, hieß es plötzlich. Kein Mussolini,
kein Krieg. So hofften damals die Menschen. Das wollten sie,
das erwarteten sie von diesem Umsturz. Der Krieg ist aus! ,,Fate
luce‘‘ — Machet Licht, riefen sie sich in der Dunkelheit zu. Sie
wollten die Nacht erhellen, denn nach so vielen Jahren der
Finsternis schien für sie das Licht der Erlösung aufgegangen.
Nie wieder habe ich eine solche Nacht erlebt wie damals in
meinem Dorf, als die Ortschaften, die ringsum an der Strecke
der Calabro-Lucana lagen, den Sturz des Duce und das ver¬
meintliche Ende des Krieges feierten. Die für gewöhnlich so
exuberanten und extrovertierten Menschen waren ruhig und ge¬
sammelt. Sie schrien und lärmten nicht vor Freude. Sie spür¬
ten den Hauch der Geschichte, die Größe des Augenblicks. Sie
sangen auf den Bergen, in den Tälern. Im Freien standen sie da
und sangen und zündeten Freudenfeuer an. Plötzlich war das
ganze Land, Berg und Tal, hell erleuchtet von Hunderten von
Flammen, die hinaufschlugen zum nächtlichen Himmel, an dem
die Sterne immer tiefer hingen und heller leuchteten als sonst
wo, und die in dieser Nacht das Licht der Feuer reflektierten,
die die Menschen in stiller Andacht gezündet hatten, denn sie
meinten, Gott hätte ihnen das Ende des Krieges beschert. Vierzig
Jahre sind seit damals vergangen, aber ich stehe immer wieder
auf jener Anhöhe und schaue verwundert um mich und sehe die
zahllosen Freudenfeuer, die die Nacht erhellten, und sie wär¬
men mein Herz, weil ich weiß, mit wie viel Glücksgefühl und
Schmerz zugleich, mit wie viel Naivität und reinem Glauben

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sie entzündet worden waren — und ich denke an jene erhabene
Nacht mit Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, das mich zur
Zeugin der Zeit machte.

Im Morgengrauen, als die Feuer abgebrannt und die Men¬
schen von der Emotion ermattet, durch das herannahende Licht
des Tages auch wieder ernüchtert waren, fragte man sich all¬
mählich, was nun? Vor allem fragten wir uns: Was wird nun mit
den Freunden in Spezzano? Kurz entschlossen sagte meine
Mutter um 6 Uhr früh: Komm wir gehen nach Spezzano, auf
den Bahnhof. Dort herrschte Unbehagen. Die als Faschisten be¬
kannten Drahtzieher der Verbannung der Internierten nach
Ferramonti standen da, unschlüssig, betroffen. Die Parteiab¬
zeichen waren von ihren Aufschlägen verschwunden. Alles an¬
dere Volk jubelte, aber die Hochstimmung konnte sich nur
schwer auf unsere Leute übertragen, die da standen, mit ihrem
bißchen Gepäck, und auf den Zug warteten. Erst als dieser aus
der Ferne sicht- und hörbar wurde (die Lokomotive pfiff una¬
blässig und fröhlich), löste sich die Spannung. Es war wieder
ein unvergeßliches Schauspiel. Lang wie noch nie schlängelte
sich der Zug heran. Menschen hingen förmlich wie Trauben aus
den Fenstern. Menschen tanzten auf den Dächern der Waggons.
Als der Zug in die Station einfuhr und die Menschen die Inter¬
nierten erblickten, wurden sie Gegenstand nie endender en¬
thusiastischer Ovationen: Die Opfer des Faschismus waren die
Helden des Tages. Das Volk hatte sich geäußert. Die Behörden
wagten es nicht mehr, die Juden abzutransportieren. Jubelnd führ¬
te man sie nach Spezzano zurück, wo sie im Triumph wieder
einzogen.

Wie immer wurde das Volk um seine Hoffnungen betrogen.
Bald stellte sich heraus, daß der Krieg nicht zu Ende war. Auch
gegen die Erwartungen jener, die Mussolini so mutig zu Fall
gebracht hatten, führte das neue Staatsoberhaupt, Marschall
Badoglio, den Kampf an der Seite Deutschlands weiter, bis er
am 8. September, nachdem Montgomerys VIII. Armee in blu¬
tigen Schlachten Sizilien und Kalabrien erobert hatte, zur be¬
dingungslosen Kapitulation gezwungen wurde. Unsere Leidens¬
genossen waren im August, trotz allem, nach Ferramonti ver¬
schickt worden. Nun besetzten die Deutschen ganz Italien jen¬
seits Apuliens, das auch noch befreit worden war, und depor¬
tierten mit Hilfe der neuen Faschisten, die sich mit ihnen ge¬
gen ihr eigenes Vaterland solidarisiert hatten, alle Juden und vie¬
le italienische Patrioten in die Vernichtungslager.

Wir waren frei. Aus freien Stücken gingen wir im Oktober
1943 in das freie Ferramonti, zu unseren 2.000 Brüdern und
Schwestern, die unter der Obhut der Alliierten im sumpfigen
Tal, wie einst die Chaluzim im Emek Yezreel, einen kleinen jü¬
dischen Staat errichtet hatten. So begann ich vor vierzig Jahren,
in Kinderschuhen, den Weg des Dienstes an meinem Volk zu
beschreiten, den langen Weg nach Zion, der nicht in Zion en¬
det, denn dort, wo Juden sind, ist Zion, in uns, mit uns. Wir ha¬
ben es damals in Ferramonti bewiesen, als es uns Kindern ge¬
lang, aus Juden aus aller Welt Zionisten zu machen: eine große
Familie, die, während Europa in Flammen unterging, zu neu¬
em Leben aufbrach, in der Freiheit und Geborgenheit des ei¬
genen, des Heiligen Landes.

Aber als ich Celico verließ, in tiefer Nacht auf einem Pferde¬
wagen, der durch sein Rattern die Stille verletzte, und die Bäume
zwischen den Bergen hoch aufragten zum Mond, der die
Finsternis erhellte, rezitierte ich in Gedanken, heimlich und mit
blutendem Herzen, Lucias Abschied aus dem berühmten Roman
„Die Verlobten“ von Alessandro Manzoni: ,,Addio monti“. Adieu
ihr Berge.