Gesicht und eine Geschichte. Erweitert wur¬
de die Sammlung durch jüdische Zeitzeugen,
die heute in aller Welt zerstreut leben und er¬
zählen: von einem normalen bürgerlichen
Leben zusammen mit ihren christlichen
Nachbarn, von ihrer kulturellen Heimat in der
deutschen Literatur und Musik, von ihrer
Flucht und davon, dass viele von ihnen ihre
Eltern und Großeltern als Jugendliche verlas¬
sen mussten und darüber, welches Trauma es
bedeutete, nach dem Krieg von Verschleppung
und Vernichtung ihrer Angehörigen, Ver¬
wandten und Freunde zu erfahren.
Alfred Kerr, Ilse Blumenthal-Weiss, Kurt
Tucholsky, Carl Zuckmayer, Kurt Pinthus,
Egon Erwin Kisch, Else Lasker-Schiiler,
Walter Benjamin, Nelly Sachs, Gertrud
Kolmar — alle waren Bewohner des Baye¬
rischen Viertels, um nur die prominentesten
unter den Schriftstellern hervorzuheben. Die
meisten lebten zeitweilig hier, Ilse Blumen¬
thal-Weiss, zu Unrecht als Lyrikerin viel zu
wenig bekannt, und Nelly Sachs wurden in
Schöneberg geboren, Gertrud Kolmar wurde
1939 von Falkensee zwangsweise in eine so¬
genannte „Judenwohnung“ umgesiedelt. Sie
alle stehen exemplarisch für das literarische
Leben in der Großstadt Berlin, werden zu¬
sammen mit den vielen unbekannten Men¬
schen aus dem einst keineswegs pejorativ
„Jüdische Schweiz‘ genannten Viertel zu ei¬
nem Kaleidoskop jüdischen Lebens verdich¬
tet.
In einem in den Ausstellungsraum gebauten
kleinen Kinosaal läuft zu jeder vollen Stunde
der Interviewfilm „Geteilte Erinnerungen“.
Hier sprechen vier jüdische und elf nicht-jü¬
dische Zeitzeugen über ihre Kindheit, Jugend
und die folgenden Jahre der NS-Herrschaft.
„Das Ausmaß der Vernichtung“, so der Tenor,
„konnte 1945 vielen unbekannt sein. Doch wer
vorgab, nichts vom Ausmaß der Verfolgung
mitgekriegt zu haben, log.“
Ester Golan, Rahel Mann und Lydia Passi¬
kowa waren in den Tagen nach der Gedenk¬
veranstaltung in Berliner Schulen eingeladen,
das Rahmenprogramm im Rathaus Schöne¬
berg mit Lesungen und Vorträgen wird am 14.
März von einer Podiumsdiskussion „Der Bei¬
trag der dezentralen und zentralen Erin¬
nerungsorte zur Geschichtskultur“ beschlos¬
sen, an der u.a. Wolfgang Benz vom Institut
für Antisemitismusforschung und Rainer
Klemke, Referent für Gedenkstätten, teilneh¬
men werden.
Eine so langjährige, vielseitige und tiefge¬
hende Auseinandersetzung wie sie Katharina
Kaiser vom Kunstamt Schöneberg betreibt
und immer wieder in die Öffentlichkeit bringt,
bewahrt vor in Festreden verbannten, euphe¬
mistisch verbrämten und formelhaft wieder¬
holten Appellen, die Verbrechen der Faschis¬
ten nie zu vergessen.
Susanne Alge
Generalprobe von „Die tote Stadt“
von Erich Wolfgang Korngold
Diese Operninszenierung wurde schon bei den
Salzburger Festspielen im Sommer 2004 ge¬
zeigt. Sie war die Opernaufführung dieser
Festspiele.
Korngold, geboren 1897, verfaßte diese Oper
zwischen 1916 und 1920; die Uraufführung
erfolgte 1920 in Köln und Hamburg.
Schon die Geschichte der Entstehung der Oper
entbehrt nicht einer gewissen Spannung und
Dramatik. Zum einen liegt ihr als Sujet
George Rodenbachs „Bruges la Morte“ zu¬
grunde, ein Roman von zutiefst pessimisti¬
scher Grundhaltung, der sich sicher nicht zu¬
letzt deshalb in seiner Zeit— vor dem 1. Welt¬
krieg — ziemlich großer Popularität erfreute.
Zum anderen ist das Libretto nach einigen er¬
sten Schritten durch andere Autoren schlie߬
lich von E.W. Korngold selbst, v.a. aber von
dessen Vater Julius geschaffen worden und un¬
ter dem Pseudonym Paul Schott dann auch
herausgekommen.
Obwohl Korngold zu diesem Zeitpunkt erst 23
Jahre alt war, handelte es sich bereits um sein
viertes Bühnenwerk. Es sollte sein bekannte¬
stes und berühmtestes werden. Schon lange
davor war er das Wunderkind der Wiener
Musikszene, dessen erstes, an der Wiener
Hofoper aufgeführtes Bühnenwerk „Der
Schneemann“ — ein pantomimisches Balett —
aus dem Jahre 1910 stammte, als der Autor erst
dreizehn war.
Was ist nun das besondere dieser Oper? Wo
steht sie in der damaligen Musik- und Musik¬
theaterentwicklung? Nun, Korngold gehörte
nicht zu den Komponisten der Avantgarde. Er
stand bis zu seinem Lebensende auf dem
Boden der Tonalität. Das heißt nicht, daß er
unmodern und altmodisch war, auch bei ihm
werden die Harmoniemöglichkeiten der
Tonalität oft an ihre Grenzen geführt, doch er
blieb immer der „Sanglichkeit‘“, der Melodie
verbunden, er legte absoluten Wert auf
Verständlichkeit der Musik, er ging nicht den
Weg von Schönberg und dessen Kreis.
Die Auseinandersetzung dieser beiden Rich¬
tungen, von „Schönberg“ einerseits und
Komponisten wie Korngold, Schreker und
vielen anderen andererseits, wurde durch die
Nazis brutal unterbunden - beide Richtungen
wurden zu „entarteter Kunst“ erklärt, und was
übrig blieb waren Wagner, Richard Strauss
und deren willfährige Epigonen; und das wirkt
noch bis heute nach, so daß die Opern von
Korngold, Schreker ebenso wie die Werke
Schönbergs oder Bergs bis heute ihre öffent¬
liche Sprengkraft nicht verloren haben. Die
Protagonisten beider Richtungen wurden, so
sie nicht ermordet wurden, von den Nazis ins
Exil gezwungen, womit ihr Komponieren zu¬
mindest teilweise neue Richtungen einschlug.
Um so unverständlicher ist es, wenn Peter
Blaha 2005 im Programmheft schreibt: ,....
Nicht erst die Machtübernahme der Nazis
1933 versetzte Korngolds Musik, die den
braunen Machthabern als “entartet’ galt, den
Todesstoß. Ihre Zeit schien zuvor schon ab¬
gelaufen.“ Denn die Nazis diktierten, zumin¬
dest aber beeinflußten das Kulturgeschehen
nicht erst nach ihrer Machtergreifung.
Zurück zur „Toten Stadt“. Was machte und
macht ihre Faszination aus? Diese Oper be¬
ginnt in totaler Resignation und im Leben in
der Vergangenheit, dem Leben mit und für die
Erinnerung an die tote Gattin. Doch dann, im
Gegensatz zum Roman Rodenbachs, läßt (las¬
sen) (die) Korngold(s) den Protagonisten
Paul in großartigen Traumfantasien, die durch
das Auftreten einer Tänzerin, welche der
Verstorbenen zum Verwechseln ähnlich ist,
ausgelöst werden, die Atmosphäre des Todes
überwinden und zu einem Neubeginn, zu ei¬
nem Ja zum Leben kommen. Natürlich haben
die Menschen der damaligen Zeit verstanden,
daß es sich nicht um Brügge, sondern um
Wien handelt, daß es eigentlich ein positiver
Apell an die Wiener und Österreicher ist, trotz
des Zerfalls der Monarchie nicht einer „Toten
Stadt“ nachzuweinen, nicht in einer ,,Schein¬
monarchiehauptstadt“ weiterzuträumen, son¬
dern sich dem Leben zu stellen. Natürlich ver¬
standen die Menschen damals die tiefenpsy¬
chologische Bedeutsamkeit des Traumge¬
schehens und diskutierten nicht gerade un¬
aufgeregt darüber. Und so hat Korngold trotz
aller Widrigkeiten sowohl musikalisch als
auch inhaltlich ein klares Ja zum Leben und
damit — aus seiner Sicht — auch ein Ja zur
Tonalität — gegeben.
Nun zur Aufführung selbst. Eigentlich paßt
hier alles: Das Bühnenbild bewältigt die
Aufgabe des Changierens zwischen Realität
und Traum so großartig, daß selbst die
Zwiespältigkeiten und Zwischenstufen, die
aus der Musik herauszuhören sind, auch sze¬
nisch vorhanden sind. Musikalisch großartig
— Musik, die den Wiener Philharmonikern ab¬
solut liegt und die Donald Runnicles auch her¬
vorragend umzusetzen weiß. Die Protago¬
nisten, allen voran Angela Denoke, singen und
agieren meist glänzend; vielleicht könnte
Stephen Gould in den Traumszenen expressi¬
ver, explosiver auftreten, aber das ist Ge¬
schmacksache. - Alles in Allem auch in Wien
ein großes Opernereignis.
Schließen möchte ich mit einigen im Pro¬
grammheft im Beitrag von Olaf Kiener zitier¬
ten Zeilen Erich Frieds:
Auch wus ich gegen das Leben geschrieben
habe
ist für das Leben geschrieben
Auch was ich für den Tod geschrieben habe
Ist gegen den Tod geschrieben.