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sche Bevölkerung an den Nationalsozialismus gebunden war: Ein Drittel der österreichischen Bevölkerung waren entweder ehemalige NSDAP-Mitglieder (ca. 700.000) oder Wehrmachtssoldaten (ca. 1,2 Mio. Kriegsteilnehmer), wobei auch ihre Angehörigen nicht vergessen werden dürfen, die ihre Männer stützten und verteidigten. 1945 wurde mit dem „Verbots-“ und dem „Kriegsverbrechergesetz“ ein bürokratischer Entnazifizierungsprozeß begonnen. Bereits 1947 mussten die Alliierten intervenieren, um eine allzu milde Fassung der von der österreichischen Regierung vorgelegten Novelle des Verbotsgesetzes („Nationalsozialistengesetz“) zu verhindern. Der politische Berater des amerikanischen Oberkommandanten in Österreich interpretierte den Wahlerfolg der ÖVP bei der ersten Nationalratswahl 1945 als Ergebnis der „liberaleren‘“ Haltung der ÖVP in der NS-Frage. Die ÖVP agierte mit dem Ausnahmeparagraphen des Verbotsgesetzes (§ 27) nahezu schamlos, worauf auch in der SPÖ-Führung die Scham verflog. 1948 wurde eine Jugendund Minderbelastetenamnestie verfügt. 90 % der Registrierten waren davon betroffen und durften bei der Nationalratswahl 1949 wählen. Die ÖVP versuchte, die „Ehemaligen“ in ihre Partei zu integrieren. Die SPÖ unter Schärf, Helmer und Waldbrunner betrieb die Zulassung des VdU („Verband der Unabhängigen“), um das „bürgerliche Lager“ zu spalten. Nach dem Wahlerfolg des VdU begann die ÖVP mit ihm zu kooperieren, worauf die SPÖ die schwarz-braune Zusammenarbeit anprangerte. Das Niveau der Nachkriegspolitik war erbärmlich. Ein Exempel sozialdemokratischer politischer Arithmetik bieten die Ausführungen des „Staatskanzlers‘“ Karl Renner auf einer Parteikonferenz im Herbst 1945. Renner formulierte im Zuge einer heftigen Kontroverse den Standpunkt des rechten Flügels der SPÖ: Es sei Milde in der NS-Frage nötig, da es „fast keine sozialistische Arbeiter-Familie“ gebe, „in der nicht einer den Nazis nachgelaufen“ sei. Renner wandte sich klar gegen den Wahlausschluß der Nationalsozialisten. „Es müßte auch darauf Rücksicht genommen werden, dass jetzt die jüdischen Wähler wegfallen und wenn wir damit [mit dem Wahlausschluß B.K.] auch noch diese Stimmen abstoßen, kann das eine Gefahr sein.“ (S. 45) Da Kurs auf die Zusammenarbeit der großen christlich-konservativen und sozialdemokratischen Parteien genommen wurde, wurde für die SPÖ offenbar, dass sie der ÖVP bei der Kaderrekrutierung eindeutig unterlegen war. Die Sozialdemokratie hatte in der ersten Republik kaum Positionen im Staatsapparat besetzen können, ihre Funktionäre waren 12 Jahre illegalisiert und verfolgt, und nationalsozialistische Vertreibung und Vernichtung hatten ihre Funktionäre jüdischer Herkunft „entfernt“. Die vertriebenen und im Exil überlebenden Parteifunktionäre wurden nicht zurückgeholt, wohl weil sie aufgrund ihrer austromarxistischen Vergangenheit von den Vertretern einer pragmatischen rechten Sozialdemokratie als Gefahr für koalitionäre politische Entwicklungen betrachtet wurden, und auch der Antisemitismus hat seine Rolle gespielt. Die Eliterekrutierung wurde für die SPÖ zum Problem, dafür wurde 1946 der Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) gegründet. Als Ziel des BSA wurde neben der Gewinnung von Intellektuellen und Akademikern für die SPÖ die Gewinnung von „Fachleuten“ festgestellt, die die Partei „zur Erfüllung ihrer Aufgaben in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft benötigt.“ (S. 29) Diese Fachleute kamen zu einem großen Teil aus den Reihen der „Ehemaligen“. Nationalsozialistische Akademiker hatten sich 1945/46 schon massiv der ÖVP angeschlossen, weil sie ihnen bei der Entregistrierung geholfen hatte. 1947 begann ein gezielter Werbefeldzug des BSA unter „Ehemaligen“, vor allem in Salzburg, Tirol, Steiermark und Kärnten, und die Mitgliederzahlen vervielfachten sich. Der BSA hatte nun das Potential, im großkoalitionären Proporz mitzuspielen. Die ÖVP besetzte ihre Ämter aus dem CV und die SPÖ konnte nun auch intervenieren, in erster Linie in Ministerien, die sie führte. Ich erinnere nur an das zeitgenössische Etikett „Königreich Waldbrunner“ oder „Waldbrunner-Imperium“. Waldbrunner als Zentralsekretär der SPÖ, BSA-Präsident und Verkehrsminister, bei ihm ressortierte auch die verstaatlichte Industrie, konnte einiges bewegen. Nach dem Aufriss der sozialdemokratischen Strategie gegenüber den Nationalsozialisten zeigen Neugebauer und Schwarz an biographischen Beispielen, wie höhere nationalsozialistische Funktionäre über die sozialdemokratische Verbindung in der zweiten Republik Karriere machten. (S. 108-166) Die Juristenund Ärztegruppe des BSA wurden genauer analysiert. Selbst eindeutige NS-Richter fanden Eingang in den BSA und über ihn prominent in die Rechtssprechung der zweiten Republik. Als Oscar Bronner diese Tatsache 1965 aufdeckte, zogen die wichtigsten SPÖPolitiker im Justizwesen keine Konsequenz. So stellte sich Justizminister Broda „jederzeit rückhaltlos vor seine Richter und Staatsanwälte“. (S. 210) In der sozialistischen Ärztevereinigung der ersten Republik waren prominente Mediziner jüdischer Herkunft vertreten, in der Ärztesektion des BSA gab es kaum mehr Juden, was den Sozialdemokraten nicht anzulasten ist, aber dass unter ihren Mitgliedern mehr ehemalige Nazis waren als im Durchschnitt der Bevölkerung, spricht eine deutliche Sprache. Dies geschah, obwohl die Führung der sozialistischen Ärztevereinigung pronounciert antifaschistisch war. Als 1955 das Bundesheer aufgebaut werden sollte, stellte sich diese Führung gegen den Armeeaufbau. Die Spitzen von SPÖ und BSA reagierten scharf und tauschten die gewählten Funktionäre aus. „Die Demontage von führenden antifaschistischen BSA-Ärzten, wie Josef Schneeweiß, Marcell Schnardt, Franz Poddany oder Kurt Steyrer, fiel beinahe zeitgleich mit dem BSA-gestützten beruflichen Aufstieg der “braven’ und angepassten ehemaligen NS-Ärzte, wie Heinrich Gross, Walter Birkmayer und Ernst Pichler, zusammen.“ (S. 237) Der BSA war mit der ‘alten’ Arztefiihrung bei den Arztekammerwahlen nicht schlecht gefahren. Es war nicht politische Erfolglosigkeit, die zum Wechsel führte. Darauf referieren die Autoren unglaubliche Ärztekarrieren, um mit der langjährigen Affäre zu enden, die letztlich zu dieser Untersuchung geführt hat: den Fall Heinrich Gross, mordender Euthanasiearzt am „Spiegelgrund“ mit einer großen Nachkriegskarriere, die durch den BSA ermöglicht wurde. Dieser gut untersuchte Fall hat und wird wahrscheinlich nie einen angemessenen Abschluß erfahren; der Parteiausschluß allein ist kein ausreichendes Signal. Die Untersuchung über die sozialdemokratische Karriereorganisation ist ein sehr guter Anfang, aber werden je weitere folgen? Wird nur unter Druck untersucht? Arbeiten, die entscheidende Fragen stellen und gut bearbeiten, sind trotz der Publikationsflut zur NS-Geschichte selten. Ich wage zu behaupten, erst wenn wir genauer hinschauen, merken wir die Größe der Desiderata der Forschung. Oder wissen Sie, ob Österreich das einzige von den Nazis besetzte Land war, in dem Wehrpflicht zur deutschen Armee bestand? Otto Tausig: Kasperl, Kummerl, Jud. Eine Lebensgeschichte. Nach seiner Erzählung aufgeschrieben von Inge Fasan. Wien: Mandelbaum Verlag 2005. 208 S. Otto Tausig, dieser im besten Sinne des Wortes lebendige Volksschauspieler, erzählt eine süße Kindheits-, eine schwierige Jugendgeschichte, geprägt von der Nazi-Okkupation, dem Wiener Antisemitismus und dem Exilalltag eines einsamen Jungen, der in England im Kommunismus sein Kampfmittel gegen die Verfolger findet. Und er wurde Schauspieler im Austrian Centre, wo im Ringen um einen neuen österreichischen Nationsbegriff die österreichische Literatur als Nationalliteratur konzipiert wurde. Der Kommunist kehrte 1946 nach Wien zurück, um beim Wiederaufbau zu helfen. Er absolvierte das Reinhardt-Seminar und begann im Neuen Theater in der Scala zu arbeiten. Die Scala brachte die linke Moderne in das postfaschistische Österreich. Kein Wunder, dass dieses sich nach 1955 rächte: die Scala wurde ausgehungert. Gleichzeitig wurde der Kommunist Tausig vom Zweifel zerfressen: Ungarn und die Geheimrede am 20. Parteitag der KPdSU ließen ihn alles andere als unbeeindruckt. Aber zu Kreuze kriechen wollte er nicht, wie die österreichische Kulturpolitik es von ihm forderte. So ging er nach Ost-Berlin und hatte auch dort seine Sträuße auszufechten. „Nach 7 Jahren Emigration unter Hitler und 14 weiteren unter Torberg, Weigel und Konsorten“ (S. 159) 83