Joseph Kalmer hat beim Austrian Center, im „Zeitspiegel“
mitegearbeitet, schon wie der noch hektographiert war. Er
wäre, seiner eigenen Überzeugung nach, ein linker Sozialdemo¬
krat gewesen. Nur ist es so gewesen, daß die Sozialdemokraten
und die Revolutionären Sozialisten ein ungeheuer bescheidenes
und propagandistisch — man kann schon sagen — sehr untüch¬
tiges Vereinchendasein geführt haben, daß die Kommunisten
die einzigen waren, die gewußt haben, wie man Massenarbeit
gut aufzieht dort. Die hatten im Austrian Center zunächst
einmal ein billiges und gutes Restaurant für Flüchtlinge
geschaffen, als Massenanziehungspunkt, außerdem haben sie
kulturelle Darbietungen gemacht, Vorleseabende und solche
Sachen, und eine Kleinkunstbühne, das „Laterndl“, die Jura
Soyfer-Stücke und andere improvisierte Stücke gebracht hat.
Die haben ungeheuer gut gespielt. Da gab es einmal eine
gespenstige Sache. Einer von den Schauspielern, der hieß Stark,
der hat in einem Stück gespielt, ich glaube von FrantiSek Lan¬
ger. Und der alte Alfred Kerr hat den spielen gesehen und ist zu
ihm hingekommen und hat gesagt: „Wissen Sie, ich will nicht zu
viel sagen, aber Sie könnten ein zweiter Kainz werden.“ Und der
Stark, der keine Ahnung hatte, wer Kainz war, hat gesagt: „Ja,
ja, also dankeschön.“ Sagte der: „Damit Sie wissen, wer Ihnen
das sagt, mein Name ist Alfred Kerr.“ Und der Stark, der keine
Ahnung hatte, wer Alfred Kerr war, sagte: „Ja, ja, also danke¬
schön.“ Und der Kerr ist wie unter einem Peitschenhieb an
seinem Stock weggeschlichen. Und ich habe zum Stark gesagt:
„Du, das ist der Alfred Kerr. Er war einer der gefürchtetsten
Theaterkritiker in Deutschland. Renn ihm sofort nach und
bedank dich noch einmal. Du kannst das dem alten Mann nicht
antun.“ Und der hat das getan. Der Kerr hat aufgeatmet. Der
Kerr war ein boshafter Hund zu seiner Zeit, aber das war zu
furchtbar ... Sic transit gloria mundi.
Kalmer hat dort mitgearbeitet, weil die waren die einzigen, die
wirklich etwas aufgesteckt haben, und die auch an Leute heran¬
gekommen sind. Aus ähnlichen Gründen bin ich, obwohl ich
zuerst bei den Trotzkisten gewesen bin, die sich aber gespalten
haben, wenn sie mehr als drei Mann stark wurden (damals, in
dieser Zeit, jetzt in England und in anderen Ländern ist es ein
bißchen anders), zum Young Austria gegangen und zum Kom¬
munistischen Jugendverband, weil ich geglaubt habe, die Lügen
liber Trotzky usw., das ist eine Kinderkrankheit, das wird sich
später schon richtigstellen. Daß das gar keine Kinderkrankheit
war, die noch lange nicht richtiggestellt ist, darin hatte ich mich
eben verkalkuliert und bin dann auch wieder weggegangen. Der
Kalmer ist auf mich aufmerksam geworden wegen meiner
Gedichte, und er hat auch den Kramer gekannt. Und ich hab
den Kramer durch meinen Deutschlehrer, den Otto Spranger,
kennengelernt, der gesagt hat, ich muß den unbedingt kennen¬
lernen und mich unter Umständen ein bißchen um ihn küm¬
mern. Der Kalmer hat sich meine Gedichte angeschaut und hat
gesagt: „Wenn du so weitermachst, dann wirst du natürlich
unweigerlich den Stalin-Preis kriegen, mein Haus dürftest du
dann aber nicht mehr betreten.“ Er hatte nichts gegen den
Stalin-Preis, sondern er hatte etwas gegen diese Art von Gedich¬
ten und hat gesagt: „Wenn du wirkliche Gedichte sehen willst,
dann zeig ich dir andere Sachen.“ Und er hat mir die K. L.
Ammersche Übersetzung, eingeleitet von Stefan Zweig, von
Rimbaud gezeigt und viele andere Gedichte. Er hat mir dann
auch seine Anthologie geschenkt, „Europäische Lyrik“ ... [...]
Majakowski habe ich damals kennengelernt. Außerdem hat er
gesagt, Gedichte, das ist ist eine handwerkliche Sache, und hat
meine Gedichte für mich korrigiert oder hat sich mit mir hinge¬
setzt, hat gezeigt, woran er Anstoß nehmen muß und hat mir
auch handwerkliche Aufgaben gegeben, z. B. daß ich ein
Gedicht schreiben muß über die Sirenen, worin sowohl die
Sirenen, die den Fliegerangriff verkünden, als die Sirenen des
Odysseus vorkommen und zu einer Synthese zusammengefaßt
sind. Und das sollte in ein oder zwei Sonetten geschehen. Under
hat gesagt: Es ist nicht wichtig auf diese Weise, daß das ein sehr
gutes Gedicht sein muß, aber wichtig, daß ich die literarischen
Formen in die Hand krieg, Sonett, Sonettenkranz und alles
mögliche, Terzinen. Dann brauche ich mich nicht dran zu
halten. Aber man darf es nicht aus Unkenntnis der Formen tun,
daß man freiere Formen gewinnt. [...]
Besonders nach Kriegsende war die Frage des Lebensunterhalt,
ich wollte Übersetzungen machen. Es gab einen gewissen klei¬
nen Markt für Übersetzungen, einerseits die Literaturfabrik
vom Herlitschka, der eine ganze Reihe von Geistern beschäftigt
hat für seine Virginia Woolf-Übersetzung, von sehr schlecht
bezahlten Geitern. Ich habe z. B. „Die Jahre“ übersetzt, „The
Years“, und das kam dann alles unter dem Namen Herlitschka
heraus, wurde aber von den verschiedensten Emigranten¬
schriftstellern übersetzt. Gut, der Herlitschka hat sich dann die
Übersetzungen noch angeschaut und durchkorrigiert, das kann
man zu seinen Gunsten noch sagen. Für mich war das natürlich
trotzdem eine Übung. Aber der eigentliche Markt für Überset¬
zungen war das Central Office for Information (oder zuerst
Ministery of Information), für das auch Kalmer Übersetzungen
gemacht hat, und die Zeitschriften „Die neue Auslese“, oder
auch genannt „Ausblick“ in der Ausgabe für Kriegsgefangene,
das hatte nur verschiedene Deckblätter, aber war derselbe
Inhalt, eine Art Digest, also Auszüge aus der Weltliteratur, mit
ganz wenigen Originalbeiträgen. Eines meiner Gedichte wurde
da einmal veröffentlicht. Von einem sehr guten Mann war diese
Zeitschrift redigiert, den Kalmer auch gern gemocht hat, Bruno
Adler, auch genannt Roedl, Urban, Deckname, der über Stifter
und Claudius gearbeitet hat und am Bauhaus Lehrer und ein
Freund von Klee, Schlemmer und Kandinsky gewesen war. Den
Bruno Adler hat der Kalmer auch gut gekannt.
Dort habe ich Übersetzungen machen wollen, und ebenso beim
„Blick in die Welt“, herausgegeben von Wolfgang von Einsie¬
del, und in der „Zeitung“, herausgegeben von Sebastian Haff¬
ner. Alle die waren von den Engländern ursprünglich initiiert,
vom Ministery of Information und — die „Zeitung“ — vom
Foreign Office sehr großzügig kontrolliert. Also, die haben
ihnen nicht sehr enge Vorschriften gemacht. Aber sie wurden
dann auch nach Kriegsende in Deutschland gedruckt und ver¬
teilt. Die Verteilung hatte ein aufstrebender junger Verleger
namens Axel Cäsar Springer über, von dem ich auch noch
Essayisten und Erzahlers Lu Xun (oder Lu Hsiin, 1881—
1936) sei besonders auf Kalmers Ubersetzung von dessen
Erzählungen hingewiesen: „Die Reise ist lang“. Auch
beim Erscheinen dieses Buches wirkt der Zusammenhalt
des Exils nach. Der Verleger Johann Fladung (Progress
Verlag, Düsseldorf 1955), ein deutscher Kommunist, war
Vorsitzender des Freien Deutschen Kulturbundes in
Großbritannien gewesen. Mit dieser Übersetzung hat
Kalmer einen der wohl bedeutendsten Schriftsteller des
20. Jahrhunderts erstmals in einer größeren Sammlung in
die deutsche Sprache eingeführt. Kalmers Übersetzung
wurde später vom Verlag für fremdsprachige Literatur,
Peking, in großen Auflagen nachgedruckt, ohne aller¬
dings den Namen des Übersetzers zu nennen. Als der
Suhrkamp Verlag 1982 „Die wahre Gechichte des Ah Q“,
eine der bekanntesten Erzählungen Lu Xuns, wieder auf¬
legen wollte, war selbst an Lu Xun interessierten Sinolo¬
gen unbekannt, wer hinter dem Namen Joseph Kalmer
Ein ausführlicher Aufsatz „Gar nicht fremde Weite. Der Lyriker,
Journalist, Übersetzer Joseph Kalmer“ von Konstantin Kaiser
erscheint demnächst in der Zeitschrift „Exil. Forschung. Erkennt¬
nisse. Ergebnisse“ (Frankfurt a. M.).