Diese Rezension wurde am 8. Dezember
1991 in der Sendereihe „Ex Libris“ des
österreichischen Rundfunks, Programm
Öl, von Wendelin Schmidt-Dengler ge¬
sprochen.
Berthold Viertel kommt bei der Rekon¬
struktion des österreichischen Exils die
Rolle eines Kronzeugen zu. Sein wacher
Verstand, seine Theaterpraxis, seine
vielfältigen Kontakte und sein überwa¬
ches Bewußtsein, das sich jeder vor¬
schnellen Vereinnahmung erfolgreich
widersetzte, sind Garanten für eine kri¬
tische Authentizität, die seinen Schrif¬
ten hohen Quellenwert zusichert.
Der erste Band der Studienausgabe ver¬
einigte unter dem Titel „Die Überwin¬
dung des Übermenschen“ Exilschriften,
der zweite bietet nun eine Auswahl au¬
tobiographischer Texte. Da wird von
Viertels Schuljugend in Wien erzählt,
von dem Leben bis 1914, es folgen Erin¬
nerungen an den Krieg, an die Zeit zwi¬
schen den Kriegen, an den Tod des
Vaters 1932, sowie einige Rückblicke
nach 1945. Ein Kommentar, den die
Herausgeber Siglinde Bolbecher und
Konstantin Kaiser aus mir unverständli¬
chen Gründen „Glossar“ nennen, infor¬
miert redlich über die Textvorlagen.
In den meisten Fällen mußte hier über
verschieden Fundorte verstreutes Mate¬
rial zusammengestragen werden; zahl¬
reiche Manuskripte wurden neu entzif¬
fert, eine beachtliche Arbeitsleistung.
Viertel Autobiographie ist durch die
Energie der Herausgeber überhaupt
erst zustandegekommen. Diese aber
haben — obwohl die Verführung dazu
groß gewesen sein muß - sich nicht zu
einer Klitterung verleiten lassen, die aus
dem allen ein hübsches Kontinuum
gemacht hätte, sondern bewußt die
Diskontinuität auch der Biographie
gewahrt. So ist das Buch in keinem Falle
als eine geschlossene Autobiographie
zu lesen, es sind vielmehr verschiedene
kleinere oder größere Texte, die im Ge¬
samteindruck einem teilweise restau¬
rierten Fresko ähneln. Das Exil und die
verwickelte Lebensgeschichte Viertels
lassen es nicht zu, den falschen Schein
einer in sich geschlossenen Biographie
herzustellen. Viertel verklärt nicht, und
an der Konjunktur, die im Kielwasser
der Memoiren einer Alma Mahler¬
Werfel und Stefan Zweigs die von ihm
bekritelte österreichische Illusion’
erlebte, willer keinen Anteilhaben. Der
Beobachter Viertel entzaubert, hier
bleibt nicht viel mehr übrig vom heite¬
ren Penälertum, vom Leben in der gro߬
bürgerlichen Familie, vom Schmelz der
süßen Mädel; schonungslos und selbst¬
kritisch sind die Schilderungen vom Tod
des schwerkranken Vaters. Die Familie
ist nicht mehr der Ort, an dem die per¬
sönlichen Interessen verstummen und
sich ihrem Prinzip unterordnen.
„Gespaltenes Ich“ lautet der Titel eines
Abschnittes, in dem Viertel in einer
Ehrlichkeit, die allen Schreibern von
Autobiographien zu wünschen wäre,
bekennt: „Es hat nicht ein Mensch
meine Erfahrungen gemacht. Meine Er¬
lebnisse verteilen sich auf mehrere Per¬
sonen, die sich in mir abgelöst haben.“
Das ist nicht Charakterlosigkeit,
sondern Einsicht in die Inkonsistenz
einer Person und der Verzicht auf ein
falsches Persönlichkeitsideal, und es ist
auch nicht Koketterie, wenn Viertel
über sich selbst in der dritten Person
spricht.
Und so bekommen die einzelnen
Partien ihre scharfen Konturen; zu ver¬
weisen wäre besonders auf den Bezugzu
Karl Kraus, der für Viertel eine - wenn
auch nicht selten fragwürdige - Instanz
war: So im Falle Heinrich Heine, so im
Zusammenhang mit dem 12. Februar
1934. Die Partien sind auch stilistisch
unterschiedlich ausgefeilt; mitunter
spürt man, wie sorgfältig Viertel an
seinen Prosatexten feilte, manches wirkt
blockartig und lapidar, manchmal wie¬
derum bekommen wir auch nur die
Rohkost - einfache Stichworte nämlich
- geliefert.
Der Kommentar belehrt auf angenehm
knappe Weise, wenngleich mir manches
unwahrscheinlich vorkommt: Schrieb
der unter Schmerzen humanistisch ge¬
Autobiographische Fragmente
Verlag für Gesellschaftskritik
bildete Viertel wirklich „aera perenni¬
us“, wasnach Meinung der Herausgeber
„dauerhafter als das Zeitalter“ heißen
soll? Heißt es da nicht schlicht wie bei
Horaz „aere perennius“ und eben „dau¬
erhafter als Erz“? Warum ist in einmal
von einem gewissen Jara zu lesen, der
sich dann als Jura mit Nachnamen
Soyfer entpuppt? Und noch etwas: Vier¬
tel hat in der von Kraus verachteten
satirischen Wochenschrift Muskete 1915
kraftmeierische Verse veröffentlicht,
die durchaus nicht in das Bild des Pazi¬
fisten passen, das er im nachhinein von
seiner Militärzeit suggeriert. Es würde
der Integrität Viertels nicht im gerings¬
ten schaden, wenn auch dieser Punkt
berührt würde. Doch dies wiegt alles im
Vergleich zum Gesamtertrag gering. Da
die Sprache Viertels klar ist und der Er¬
zählstoff durchgehend interessant, ist
das Trägheitsmoment, das es für den
Leser zu überwinden gilt, außerordent¬
lich gering. Es gibt keine Ausrede, sich
dieser Studienausgabe zu entziehen.
Berthold Viertel: Kindheit eines Cherub.
Autobiographische Fragmente. Hg. von
Siglinde Bolbecher und Konstantin
Kaiser. (= Berthold Viertel-Studienaus¬
gabe in vier Bänden, Band 2). Wien:
Verlag fiir Gesellschaftskritik 1991.
372 S. 6S 348,-.