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7. Jahrgang Nr. 2 Juni 1990 Preis: öS 15,¬

MIT DER ZIEHHARMONIKA

Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft

Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe
und fürs Bittre bin ich da;
schlag, ihr Leute, nicht die Harfe,

spiel die Ziehharmonika.

Theodor Kramer

Gerda Hoffer

Zum hundertsten Geburtstag von
Stefan Pollatschek 1890 - 1942

Hätte er es erlebt, wäre Stefan Pollatschek am 17. Juni 1990 hundert Jahre alt
geworden. Dieser Geburtstag, wie alle, die er erlebt hat, wäre sicherlich auch mit
viel Gelächter gefeiert worden, denn er war nicht willig, sich den Sinn für Humor
rauben zu lassen, nicht einmal in den letzten Minuten seines Lebens.

Stefan Pollatscheks Karriere als Schriftsteller dauerte knappe zehn Jahre, denn
nach der Machtergreifung Hitlers war der deutsche Buchmarkt nicht gewillt, einen
eben erst bekannt werdenden jüdischen Autor zu publizieren. Um so mehr, als er
sich durch seinen ersten Roman: "Dr. Berghof ordiniert von 2-4 hn (Saturn-Verlag
1931) die Feindschaft wichtiger Ärztekreise zugezogen hatte. Dieses Buch schildert
das Leben eines Chirurgen, dem mehr an der Gesundheit seines Bankkontos als an
der seiner Patienten liegt. Das Buch war ein Plädoyer für die Einführung verstaat¬
lichter Medizin und Pollatschek wurde von Kreisen nahe der Ärztekammer sehr
angegriffen. Kurz vor seinem ersten Herzanfall wurde ihm der Besuch des behan¬
delnden Arztes gemeldet. "Ich lasse mich sehr beim Herrn Doktor entschuldigen.
Leider kann ich ihn heute nicht empfangen, da ich krank bin," war seine Antwort.

In einem weiteren Roman befaßte er sich mit Zeitproblemen. "Schicksal Maschi¬
ne" (Saturn-Verlag, 1932) schildert die Folge eines völlig mechanisierten Erzeu¬
gungsprozesses, der menschliche Arbeit unnötig macht. Die Biographien "Flammen
und Farben. Das Leben des Malers van Gogh" und "John Law. Der Roman der
Banknote" wurden in viele Sprachen übersetzt. Hitlers Einmarsch in Österreich
machte der Verfilmung des letzteren, in dem Rudolf Forster die Hauptrolle spielen
sollte, ein Ende. Dank der Hilfe seines lebenslangen Freundes Viktor Matejka,
erschien nach Stefan Pollatscheks Tod 1948 im Wiener Verlag "Dozent Müller".
Dieses Buch vergleicht einen Pestfall, der sich 1898 in Wien abspielte, mit der
aufsteigenden Pest des Antisemitismus. Pollatschek veröffentlichte auch die Studie
"Der Maler Rudolf Rapaport. Das Überwirkliche im Porträt".

Stefan Pollatschek war der Sohn des Journalisten Moritz Pollatschek, der zur
selben Zeit wie Theodor Herzel an der "Neuen Freien Presse" arbeitete. Schon der
kleine Steffel zeigte großes Interesse an Dramen und Dramaturgen. Im Alter von
zehn Jahren plante er, mit seinem Freund Berthold Viertel nach Amerika durchzu¬
brennen. Die beiden kamen bis nach St. Pölten, bevor ihrer Abenteuerlust ein
Riegel vorgeschoben wurde. Trotz heftiger Opposition seines Vaters, wandte sich
Pollatschek dem Journalismus zu, doch der Erste Weltkrieg machte seiner Karriere
ein rasches Ende. Zum Erstaunen seiner Freunde und seiner jungen Frau brachte
er es schnell zum Adjutanten eines Generals. Dieser wußte die Tarockkenntnisse
seines jungen Leutnants so zu schätzen, daß er ihn in Graz behielt und so vor dem
Frontdienst bewahrte.

In den Zwischenkriegsjahren lebte der Schriftsteller mit seiner Familie in Grin¬
zing. In seiner Wohnung fand so manche inoffizielle Tagung der Vereinigung
Sozialistischer Schriftsteller statt, bei der zumindest so viel gelacht wie gearbeitet
wurde. Zu seinem engsten Freundeskreis zählten Viktor Matejka, Ernst Waldinger
und der ebenfalls in Grinzing wohnende Elias Canetti.

1938 gelang es Pollatschek nach Prag zu flüchten und von dort mit Hilfe des
Thomas Mann-Committees nach England zu flüchten. Die Erlebnisse während der
ersten Hitlerzeit in Wien brachten sein Judentum zum ersten Mal in seinem Leben

Fortsetzung auf Seite 2

Inhalt

G. Hoffer: Zum hundersten Geburtstag
von Stefan Pollatschek /E. Hackl: Milena,
installiert S.3 / Literatur in der Periphe¬
rie - Vorschau auf die Theodor Kramer
Tagung 1990 S.5/ U. Naumann über die
SAMMLUNG S. 6/ Register des Jahr¬
buchs SAMMLUNG S. 7-10 /H. Ohrlin¬
gerüber Albert Ehrensteins Biographie in
Briefen S. 11 / B. Kuschey: Das Osterrei¬
chische und die österreichische Literatur
S.12/ Offener Briefan Lothar de Maizié¬
re von Alfredo Bauer S. 12/ Kontroverse
zu ’Brecht, Soyfer und der Stalinismus’
(MdZ, Nr. 1/1990) S. 13 / Leserzuschrift
von Theodor Waldinger S. 16 / Gedichte
von F Brainin, A. Hortler, R. Sladky

Gerda Hoffer, geboren 1922 in Wien als
Tochter Stefan Pollatscheks, emigrierte 1938
nach England; 1968 (unter dem Pseudonym
Illy Stefan) Kriminalroman "Guilty my Lord",
1980 Herausgeberin einer Sammlung im
Ghetto von Kielce geschriebener Briefe, 1988
"The Utitz Legacy" (deutsch: Ererbt von
meinen Vätern. Köln: Verlag Wissenschaft
und Politik 1990) - die Geschichte der Familie
ihrer Mutter von 1580 bis heute. Schreibt und
publiziert in englischer Sprache, u.a. für
Menora (Oxford), Search (USA), Moreschet
(USA). Lebt seit 1978 in Jerusalem.