Frederick Brainin: Das Siebte Wien. Gedichte.
Mit einem Nachwort von Jörg Thunecke und
Zeichnungen von Perry Brainin, Leo Glück¬
selig und Edith Kramer. Wien, Verlag für
Gesellschaftskritik, 1990, 149 S., 6S 198,¬
Band 3 der Buchreihe Antifaschistische
Literatur und Exilliteratur - Studien und
Brainin stellte sein Buch erstmals am 20. Mai
1990 im "Literarischen Quartier/Alte
Schmiede", Wien vor. (Einleitung P.P. Wip¬
linger, Rezitation Angelica Schütz. Am 21.5.
gaben das Dokumentationsarchiv des öster¬
reichischen Widerstandes, der Kulturverein
Innere Sadt und die Theodor Kramer Gesell¬
schaft einen Emprfang für Brainin und den
Dramatiker Heinrich Carwin (Berlin). Zur
- Einführung sprach Prof. Jörg Thunecke (Not¬
tingham), aus den Werken Brainins und
Carwins lasen Angelica Schütz und Lena Rot¬
henstein.
dieser "Installation" falsch - so wie Frauen mit nackten Oberarmen im Vatikan oder
in Assisi: Als ich mir Vivre zum zweiten Mal ansah, setzte sich eine Frau an einen
Tisch, auf einen Stuhl, der aber kein gewöhnlicher Stuhl war, dessen Wesen sich
bekanntlich darin erschöpft, Menschen als Sitzgelegenheit zu dienen, sondern der
ein symbolischer Stuhl ist, sozusagen nur rein theoretisch existiert, ein Stuhl, der ¬
wie ich aus dem "Wegweiser durch die Ausstellung" (S 10,-) erfahre - für
"Familie/Propaganda" dasteht. Jemand andrer (und zwar ich) äugte von der ver¬
kehrten Seite durch eine überdimensionierte Lupe.
Wie gesagt, präsent ist Milena Jesenskä wenigstens durch Textpassagen aus dem
Lautsprecher. Diese Passagen sind aussagekräftig und empfindsam wie alles, was
Milena geschrieben hat. Doch mit einer Ausnahme wurde weggelassen, was auf
Besuchern nicht zutrauen, Parallelen zu heute selbst zu ziehen, und hätten deshalb
eine populäre Fassung der Texte erstellt. Zu lieb, zu arglos fällt das dann aus, fast
treuherzig wird aus Jesenskäs Schriften über Wien just ein sehr mildes Urteil
ausgewählt. Ich hätte, anders als Auer und Stahly Mougin, für folgende Passage
optiert: "In Wien gibt es keine tiefen Gedanken. Es gibt keine Ideen. Sie verflüch¬
tigen sich wie Schatten."
Vivre bietet den Beweis dafür.
Vindobonas Judäer-Sklaven,
Bankier für Babenbergs Grafen,
K. und K.-Hofjud schützen vorm Ghul
die Wiener Ghettogass-Schul.
Im Traum treibt die Höll ihr Unwesen
von der Toras Asch auszulesen
Pergamentblättchen funkelnd wie Gold -¬
bis Gottes Wort knisternd entrollt
sein vergaster Schreiber wie Fahnen
mit Widderhorns Echos, die mahnen
(o, junger Touristenbus-Hirt !)
daß daitsch hier gelesen wird.
Grün er Schutzengel-Posten am Dach
(auf Anti-Terrorist-Wach !)
Maschinenpistol auf der Hut,
lös die Seeln ab in Sabbatsonns Glut.