Fortsetzung von Seite 13
2.) Bedauerlich ist es, daß Scheit (metho¬
disch gesehen) nicht wesentlich anders ver¬
fährt. Denn: Warum werden im Rahmen der
Kritik der Entindividualisierung die kulturhi¬
storischen Bezüge nicht diskutiert, obwohl die
Zitierung (zum Beispiel antiker Formen) of¬
fensichtlich ist? Warum ignoriert er die Dis¬
kussion rund um die Entstehung der "Ma߬
nahme", die in gedruckter Form vorliegt?
Warum zieht er gedruckt vorliegende Überle¬
gungen Brechts, die Benjamin nicht zugäng¬
lich waren, nicht heran? Warum werden jene
Äußerungen und literarischen Texte Soyfers
nicht in Scheits Betrachtungen aufgenommen,
die sich mit dem fraglichen Thema beschäfti¬
gen? Warum behauptet Scheit, daß ich Soyfer
"mit der kommunistischen Bewegung identifi¬
zier(e)", obwohl in meinen Arbeiten auch eine
oße Anzahl von neuen Materialien und
Jberlegungen zum Beispiel zum gesellschaft¬
lichen Widerspruchsfeld, in dem sich jüdische
Unternehmer in der Ukraine befanden, zur
_ Enteignung Wladimir Soyfers durch die Nazi,
zur Mitgliedschaft Soyfers im Verband sozia¬
listischer Mittelschüler, zu Aspekten der Auf¬
nahme austromarzistischer Topoi in Soyfers
Lyrik zwischen 1932 - 1934 und andere zu
finden sind?
Provokant = stalinistisch?
Fortgesetzte Überlegungen zu
einem Gedicht von Brecht!
Wir wollen nicht aus deinem Haus gehen
Wir wollen den Ofen nicht einreißen
Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen.
Haus, Ofen und Topf kann bleiben
Und du sollst verschwinden wie der Rauch im
Himmel
Den niemand zurückhält
Wenn du dich an uns halten willst, werden wir
weggehen
Wenn deine Frau weint, werden wirunsere Hüte
ins Gesicht ziehen
‚Aber wenn sie dich holen, werden wir auf dich
deuten
Und werden sagen: das muß er sein.
Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts
Besseres
Aber dich wollen wir nicht mehr.
Vor du nicht weg bist
Laß uns verhängen die Fenster, daß es nicht
morgen wird.
Die Städte dürfen sich ändern
Aber du darfst dich nicht ändern.
Den Steinen wollen wir zureden
Aber dich wollen wir töten
Du mußt nicht leben.
Was immer wir an Lügen glauben müssen:
Du darfst nicht gewesen sein.
(So sprechen wir mit unsem Vätern yf
Zeiten der Umbriiche bereiten nicht nur
Biichern, sondern auch einzelnen Gedichten
oft neue Schicksale. Die Werke sind nicht
gegen neue Lesarten gefeit, sondern éffnen
sich diesen. Freilich bedarf es, wenn man sich
um die Rekonstruktion von Wirkungsge¬
schichte bemüht, auch der Mühsal, die Spuren
des Kontextes zu sichern, in dem das Werk
entstand, weil sich von hier aus Schlüsse für
die Potentialität ziehen lassen.
Dies scheint mir im Falle von Brechts ver¬
meintlich stalinistischem Gedicht "An
Chronos" noch nicht hinreichend geschehen,
wird wohl auch hier nicht geleistet, doch soll
einiges ergänzt werden, das den Eıtrag frag¬
würdig - des neuen Befragens würdig macht.
Gerhard Scheit zitiert zwei Kommentare
Walter Benjamins und setzt unbesehen deren
Reihenfolge einem zweifach gestuftem Er¬
kenntnisprozeß gleich, der zu der Lesart führt,
die Brecht als Apologeten späterer stalinisti¬
scher Praxis entlarvt.
Benjamins Kommentare weisen einige Be¬
sonderheiten auf. Zuvörderst jene, daß er das
Gedicht in beiden Fällen als Schlüsseltext für
konkrete historische Sachverhalte begreift.
Nun entspricht das durchaus Brechts Ansatz,
daß seine Texte verwendbar sein sollen. Doch
wechseln in den Lesarten die Wertmaßstäbe.
So firmiert das Gedicht in der ersten als De¬
couvrierung, nicht aber als Ausdruck nazisti¬
scher Demagogie: "Es zeigt haarscharf, wozu
der Nationalsozialismus den Antisemitismus
braucht." In der zweiten bezichtigt sich Ben¬
jamin angesichts der Berichte über stalinisti¬
sche Schauprozesse, mit seinem früheren
Kommentar zur "Vertuschung der Mitschuld,
die Brecht an der gedachten Entwicklung
hatte",” beigetragen zu haben. Hier wird das
Gedicht nicht als Decouvrierung, sondern als
Ausdruck stalinistischer Menschenverach¬
tung gelesen. Die Lauterkeit der Empfindung,
die Benjamin beim Erhalt der schlimmen
Nachrichten über die stalinistischen Morde
überkam, ist nicht in Zweifel zu ziehen. Doch
wurde er damit Brecht gerecht?
Einerseits ist an den Titel des Gedichts zu
erinnern: Gemeint ist nicht der "Schwager
Kronos", den Goethe als den Zeitgott besang,
sondern jener gewalttätige Gott, der seinen
Vater stürzte und später seine Kinder ver¬
schlang, um sich die Herrschaft zu sichern.
Der durch eine List gerettete Zeus tötete
Chronos und setzte sich an die Spitze der
Götterwelt. Der Vatermord, beliebtes Thema
der Expressionisten, wird von Brecht aus¬
drücklich in der letzten Zeile markiert. Das
sind Merkwürdigkeiten, die nicht ins Bild vor¬
greiflicher stalinistischer Denkart passen.
Eher haben wir es hier mit einer"Berichtigung
alter Mythen"” zu tun, wie der Autor sein
Verfahren einmal überschrieben hatte. So
sind die Söhne Gedankentäter, sie spielen ein
Verhalten gedanklich durch und stellen diese
Position auch aus, wie die Schlußzeile belegt.
Sie sind also nicht Sadisten, sondern Zyniker,
die einem vorgedachten Geschehen ihren
schlimmen Segen geben. Die Kälte, die in der
Welt ist, füllt auch das Rollen-Subjekt des
Gedichts aus. Man erinnere sich an Brechts
Baal, den der Autor aus der Rückschau einen
Asozialen in einer asozialen Welt genannt
hatte. Zum anderen entstand das Gedicht
1926, zu einer Zeit, da Brechts Bekanntschaft
mit dem Marxismus noch sehr flüchtig, der
Stalinismus selbst Rußlandreisenden noch
nicht erfahrbar war.
Brecht ging es im "Lesebuch für Städtebe¬
wohner" nicht um die revolutionäre Aktion ¬
insofern ist auch die Vergleichbarkeit mit der
"Maßnahme" trotz partieller Analogie proble¬
matisch - sondern um den Gewinn von Hal¬
tungen, die in der modernen, von Sachzwän¬
gen beherrschten Großstadt für deren Ein¬
wohner notwendig oder vorteilhaft sein kön¬
nen. Die Frage nach Moral oder Unmoral
wird nicht gestellt, weil sie in den Verhältnis¬
sen, die ein Verhalten zwingend vorschreiben,
seiner damaligen Auffassung zufolge nicht zu
stellen ist. (Noch in der "Dreigroschenoper"
heißt es: "Doch die Verhältnisse, die sindnicht
so.") Brecht verzichtet auf die Ornamentik,
mit der andere Dichter das Dickicht der Städ¬
te versahen, und macht eine unerbittliche
Rechnung auf, die Ist-Bestände bar jeglicher
Verhüllungen benennt. Insofern neige ich
eher zu Benjamins erster Lesart, da diese den
Text nicht als Bekenntnis, sondern als vor¬
greifliche Demonstration einer Haltung be¬
greift. Doch auch diese Lesart ist eher Ausle¬
gung als gesicherte Analyse. Denn Verweise
auf nazistischen Antisemitismus enthält der
Text nicht.
Daß er so auslegbar ist, beruht wohl eher
auf Realitäten, die sowohl dem Gedicht als
auch der später von den Nazis geschaffenen
antisemitischen Atmosphäre vorausliegen.
Das Kleinbürgertum der Weimarer Republik,
das seiner ungesicherten Existenz durch
Feindbilder eine handgreifliche Ursache
geben möchte, ist eher erfaßt als die Position
Brechts. Das Gedicht macht eine Haltung,
aber nicht seine Haltung sichtbar, und erstere
wird nicht bekundet, sondern gezeigt. Unaus¬
gesprochen steht hinter jeder Zeile die Frage,
was Menschen zu Unmenschen macht. Das
"Wir" des Gedichts ist nicht integrativ. Der
Leser bleibt "draußen", weil er sich mit dem
ausgestellten Selbstbewußtsein der radikalen
Verwerfung menschlicher Existenz nicht ohne
Gründe identifizieren kann. Letztere sind
aber die Leerstelle des Gedichts.
Und mit dieser Position beträgt sich Brecht
zutiefst unstalinistisch, rechnet er doch auf
den denkenden, nicht auf den apportierenden
Rezipienten. Der Gebrauch des eigenen Ver¬
standes war etwas, das dem Stalinismus zuwi¬
derlief und zum hinlänglich bekannten Mi߬
trauen gegenüber dem schwer kontrollierba¬
ren Intellektuellen führte. Das Gedicht zielt
nicht auf Einfühlung, sondern auf Frappanz.
Inzwischen ist letztere wohl längst vermarktet.
Die schockierende Gnadenlosigkeit, die der
Text vorführt, aber nicht erlebbar macht,
bekommt man heutzutage in Dutzenden Hor¬
rorfilmen vorgeführt - erlebbar -, und wer
großes Pech hat, kann bei Geiselnahmen etc.
realiter erfahren, daß die Wildnis der moder¬
nen Zivilisation nach wie vor derartige Über¬
raschungen bereithält. Aber es bedarf nicht
nur solcher faßbaren Unglücksfälle, um
menschliche Existenzen auszulöschen.
(Brecht: Was ist ein Bankraub gegen die
Gründung einer Bank?) Gnadenlosigkeit hat
viele Gesichter und Ursachen. Wie schön
wäre die Welt, könnte man die Unmenschlich¬
keit mit dem Stalinismus zu Grabe tragen!
Indem Brecht deren Motive dem Leser vor¬
enthält, drängt er ihn zum Nachdenken, hält
er das Gedicht offen.
Im Rahmen dieser Replik fehlt der Raum,