rin der “Zeit”, provoziert ihn mit der
Frage, ob es denn nicht heute “weit
schlimmeres Leid” gäbe und ob nicht
die damaligen Emigrantinnen “Privile¬
gierte” gewesen seien. Schließlich
hätten sie ja überlebt. Sie schießt scharf
und wahllos. Es gibt Tränen, Betroffene
verlassen den Raum. Ich kann verste¬
hen, was sie so aufgebracht hat, aber
darf man wirklich ein Exil gegen das
andere ausspielen, hat der Holocaust,
die industrielle Vernichtung von Men¬
schen, wirklich irgendeine Parallele in
der Gegenwart? Und darf man diese
Frage auf solcher Ebene diskutieren, als
Vorwurf formuliert an die Überleben¬
den und an diejenigen, die sich keines¬
wegs nur aus historischem Interesse mit
dem Thema befassen?
Sind diese Symposiums-Beiträge etwa
nur ein Alibi für eine bequeme und eta¬
blierte akademische Forschung? Ich
glaube nicht. Viele der Referentinnen
arbeiten sozusagen freiberuflich — ein
euphemistisches Wort, welches besagt,
daß sich davon nicht leben läßt — wie ich
später höre. Es gibt kaum Forschungs¬
stellen an den Universitäten der Bun¬
desrepublik für solche Art wissenschaft¬
licher Arbeit jenseits der eingefahrenen
literatur- und sozialwissenschaftlichen
Geleise, während die Exilforschung in
der Ex-DDR sich gerade in Abwicklung
befindet. Ich muß bei dem Wort immer
an ein Wollknäuel denken, das — wer? —
abwickelt, und ich selbst werde kleiner
und kleiner dabei. Natürlich gab es
große Defizite in der Forschung der
DDR, wer weiß das heute nicht. Beiden
zahllosen Gesprächen, bei denen das
Thema berührt wird, befinde ich mich in
einer Position, die mich zu zerreißen
droht: einerseits der Wunsch, die Arbeit
meiner KollegInnen zu verteidigen und
das Wissen um die vielen gestrichenen
Zeilen in ihren Publikationen; anderer¬
seits die schmerzhafte Empfindung der
Liickenhaftigkeit, der so oft schon zi¬
tierten weißen Flecken in der histori¬
schen Forschung. Da ich nicht lavieren
will und kann, verweise ich immer
wieder darauf, daß ich zum Beispiel von
den stalinistischen Repressionen und
Todesurteilen gegen deutsche Emigran¬
{Innen zuerst aus den DDR-Publikatio¬
nen über das Exil in der Sowjetunion
Anfang der achtziger Jahre erfahren
habe, wenn auch nur aus wenigen
Zeilen. Andere Quellen standen mir
Wir diskutieren mehrfach die Frage, in¬
wieweit die Literatur der Emigrantin¬
nen aus Deutschland und Österreich
eine eigene Ästhetik hat entwickeln
können, herausgefordert durch den Dis¬
kussionsbeitrag eines amerikanischen
Teilnehmers. Er führt das mangelnde
Interesse deutscher Verlage auf das an¬
tiquierte Sprachverständnis der Auto¬
rinnen zurück. Ich denke an Stella Ro¬
tenbergs Gedichte. Seine These stimmt
nicht, jedenfalls nicht in dieser generali¬
sierenden Weise. Aber die meisten Bei¬
träge zielen ohnehin zunächst auf die
Rekonstruktion von Biographien, zum
Beispiel von Sigrid Thielking (Osna¬
brück) über die “guten Europäerinnen”
Anna Siemsen und Ruth Körner, von
Hiltrud Häntzschel (München) über
Marga Nögerrath-Bauer, von Deborah
Vietor-Engländer (Mainz) über Elisa¬
beth Castonier, von Thomas B.Schu¬
mann (Köln) über Jo Mihaly, von
Marion Malet (London) über Ika
Olden, von Donal McLaughlin (Edin¬
burgh) über Stella Rotenberg und
Käthe Majut.
Christine Backhaus-Lautenschläger, die
gerade ihr Buch über Emigrantinnen in
den USA veröffentlicht hat, meint in
ihrem Vortrag, die weibliche Exilerfah¬
rung habe ein Janusgesicht, sie sei eine
widerspruchsvolle Einheit von Zerstö¬
rung und Neuanfang gewesen und nur
Fortsetzung auf Seite 20
Stella Rotenberg, Foto: Alisa Douer, 1991
Laß dich nicht engagieren,
sei aalglatt, sei aalstumm;
tu dich nicht echauffieren,
sieh dich umsichtig um.
Sei nicht zu provozieren,
stell dich wo möglich dumm,
so magst du fossilieren...
Doch wenn Böse triumphieren
frage nicht warum.
Stella Rotenberg
Stella Rotenberg wird im Mai 1992 in
Wien, Imst, Landeck und Ljubljana aus
ihrem Buch “Scherben sind endlicher
Hort” (Wien 1991) lesen.
Eva-Maria Siegel, geboren 1957 in Son¬
neberg (Thüringen), 1980-85 Studium
der Germanistik an der Universität Jena.
1985-91 Wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Zentralinstitut für Literaturgeschich¬
te der (abgewickelten) Akademie der
Wissenschaften der DDR. 1991 Disserta¬
tion “Weibliche Jugend im Nationalso¬
zialismus. Massenpsychologische
AspekFrankfurt, Aachen, te in Exilro¬
manen von Hermynia Zur Mühlen,
Irmgard Keun und Maria Leitner (mit
einem Exkurs zu Erika Mann)”. Lebt in
Leverkusen (BRD).