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Harry Zohn Vermenschlichen des Unsagbaren Stella Rotenbergs Lyrik und Prosa Für mich, der ich seit Jahrzehnten mit Stella Rotenbergs poetischen Aussagen und ihrer dichterischen Persönlichkeit lebe, ist das Erscheinen dieses ebenso handlichen wie inhaltsreichen Bandes mit ihrer gesammelten Lyrik und Prosa eine Genugtuung ganz besonderer Art. Im Jahre 1972 brachte Hugo Gold, der auch mein Verleger war in seinem Tel Aviver Verlag „Olamenu“ einen schlicht Gedichte genannten Band mit Stella Rotenbergs Lyrik heraus, und sechs Jahre später erschien eine weitere Lyriksammlung im J.G. Bläschke Verlag, damals in Darmstadt. In den achtziger Jahren druckten Zeitschriften wie Aufbau (New York), Lynkeus, Literatur und Kritik und Mnemosyne sowie Sammelbände und Festschriften Lyrik und Prosa von Stella Rotenberg. Aber erst der vorliegende Band, der sozusagen unter der Ägide der Klagenfurter Germanistik erschienen ist und nahezu den gesamten Inhalt der beiden längst vergriffenen Sammlungen sowie verstreut erschienene Gedichte und Prosastücke enthält, profiliert Stella Rotenberg als exemplarische Gestalt unserer Zeit (die ich mit W.H. Auden „the age of anxiety“ nennen, aber darüber hinaus als „the century of the displaced person“ bezeichnen möchte) und weist ihr den ihr gebührenden wichtigen Platz innerhalb der deutschsprachigen Exilliteratur an. Zum ersten Mal sind ihre Gedichte hier nach Motiven gegliedert: Schoa und Exilierung; Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität; Außenseiterfiguren; Weiblichkeit; Sprache und Schreiben. Wenn ich die persönliche Note fortsetzen darf, so ist es vielleicht kein Zufall, daß meine Rezension des Bandes Gedichte seinerzeit (1973) in der kalifornischen Vierteljahresschrift Modern Austrian Literature neben meiner Besprechung von Theodor Kramers Lob der Verzweiflung erschien. Zusammen mit Erich Fried gehören Kramer und Rotenberg zu den wenigen aus Wien emigrierten Dichtern, die in England blieben (Kramer kehrte ja Ende 1957 eigentlich nur nach Wien zurück, um dort zu sterben), und nach langjährigem Briefwechsel lernte ich Stella Rotenberg bei der Innsbrucker Jahresversammlung der Theodor Kramer Gesellschaft im Herbst 1990 persönlich kennen. Die zur Zeit des Ersten Weltkriegs geborene Stella Rotenberg erlebte den „Anschluß“ als Medizinstudentin in Wien. Nach einem vollen Jahr in ihrer nunmehr „braunen“ Heimatstadt konnte sie zuerst nach Holland und kurz vor Kriegsausbruch nach England auswandern, wo sie noch heute lebt (seit 1948 in Leeds). Ihre Eltern und anderen Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Obwohl sie über England „nur Gutes“ zu berichten hat (im Krieg hatte sie das Glück, als „friendly alien“ eingestuft zu werden, wogegen ich als Sechzehnjähriger dort als „enemy alien“, als feindlicher Ausländer, behandelt wurde), bewahrheitet sich an ihr Alfred Polgars traurige Einsicht, daß die Fremde nicht Heimat, aber die Heimat Fremde wird. Noch heute fühlt sie sich sozusagen als unbehauster Mensch, und auch sie ist, um ein (bereits geflügeltes) Wort Ernst Waldingers abzuwandeln, eine Tochter der deutschen Sprache nur. Für die Dichterin, die sich als „unbestätigte“ (wohlgemerkt: nicht „unbewältigte“) Vergangenheit versteht, ist ihre Muttersprache eine Ersatzheimat, und auf ihren Wanderungen zwischen zwei Sprachen und Kulturen sucht sie Hort im Wort. Armin Wallas bemerkt in seinem Nachwort, daß Schreiben ihr als Form der notwendigen Erinnerungs- und Trauerarbeit gilt. Wie bei manchen anderen Vertriebenen festigte sich Stella Rotenbergs Zugehörigkeit zum jüdischen Volk erst im Exil. Die Erfahrung und dichterische Erfassung der Schoa rückt sie in die Nähe von Lyrikerinnen wie Nelly Sachs und Ilse Blumenthal-Weiss. In ihren bemerkenswert knappen dichterischen Aussagen beherzigt sie das Wort eines polnischen Rabbiners, der bei seiner Abführung in den Tod seine „Brüder“ 13 Leben mit österreichischer Literatur Der Band dokumentiert die Ergebnisse eines Symposiums, das, von Harry Zohn initiiert, von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur am 6./7.6. 1988 veranstaltet wurde. Eingeladen waren elf Germanisten, die 1938 und danach als junge Menschen aus dem zur „Ostmark“ verwandelten Österreich geflohen waren und nun an verschiedenen amerikanischen Universitäten lehren: Franz H. Bäuml, Susan E. Cernyak-Spatz, Joseph Fabry (der nur bedingt als Germanist angesehen werden kann), Peter Heller, Alfred Hoelzel, Herbert Lederer, Walter H. Sokel, Carl Steiner, Evelyn TortonBeck, George E. Wellwarth und Harry Zohn selbst. Ihre Beiträge in diesem Band sind keine wissenschaftlichen Fachpublikationen. Sie berichten von der Vertreibung und vom Werdegangim Exil. Obwohl keiner der Symposiumsredner die Haltung Österreichs gegenüber den Exilierten beschönigt, sind sie alle doch zu Botschaftern der österreichischen Literatur und Kultur in Nordamerika geworden. Sie machen sie durch ihre Bücher und Aufsätze bekannt, durch Übersetzungen und Theateraufführungen. Namentlich Raimund, Nestroy, die Literatur des Fin de siecle und Karl Kraus haben es ihnen angetan. Auch die nach 1945 entstandene Literatur wird von ihnen verständnisvoll betreut. Sie haben dabei oft mit dem Mißverständnis zu kämpfen, daß kein Unterschied zwischen österreichischer und deutscher Literatur bestehe. Fortsetzung auf Seite 14