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sämtliche Berliner Theaterdirektoren, Regisseure, Dramaturgen, Kritiker, sogar manche aus der Provinz.“ Ähnlich äußerte sich Hans Tramer: „Die Junge Bühne hatte sich durchgesetzt, war eine Institution, ein Ereignis geworden. Das geistige Berlin wartete auf die Ankündigungen dieser Matineen, möglichst frühzeitig schon reservierte man sich Plätze, und fast gehörte es zum guten Ton, sich an diesen Sonntagvormittagen bei etwas Außergewöhnlichem zu treffen. Und in der Tat, alles war dann da aus Politik, Wissenschaft und Kunst, denn man wußte, was hier geboten wird, ist Ausdruck der neuen Zeit. 1926 folgten noch die Aufführungen von Jahns „Krönung Richards des Dritten“ und Marieluise Fleissers „Fegefeuer in Ingoldstadt“, doch damit hörte die Junge Bühne auf zu bestehen. Sie hatte ihre Mission erfüllt, dem deutschen Theater neue Wege gewiesen und junge Autoren und Darsteller der Öffentlichkeit präsentiert. Ein von Tramer zitierter Zeitgenosse sagte: „In einem Kreis der Lauten, sich selbst Bejahenden war Seeler der Stille. Zufrieden damit, im Hintergrund zu bleiben, während er viele nach vorn brachte.“ Seeler suchte neue Aufgaben. 1927 verfaßte er für Friedrich Hollaenders zeitkritische Revue „Bei uns - um die Gedächtniskirche rum“ zwei scharfe Texte gegen die deutsche Justiz und die Reichswehr, aber von 1928 an beschäftigte er sich mit einem Filmprojekt, das schon bald realisiert wurde. Gemeinsam mit Robert Siodmak und Billy Wilder wollte er „einen ganz besonderen“ Film drehen. Billy Wilder hieß eigentlich Samuel Wilder, stammte aus Wien, war Journalist und Eintänzer, gerade erst 22 Jahre alt und den Berlinern durch seine Artikelserie „Eintänzer im Edenhotel“ bekannt geworden, während Robert Siodmak bis vor kurzem noch Bankangestellter in Dresden war, nun jedoch im Romanischen Cafe herumsaß. Beide wollten zum Film, und zumindest Wilder träumte damals bereits von Hollywood. Da kam ihnen Seelers Filmprojekt sehr entgegen. Es wurde ein Stummfilm. Die Idee lieferte Seeler, das Drehbuch schrieb Wilder und die Regie übernahm Siodmak. Allein Eugen Schüftan, der Kameramann, besaß Filmerfahrung. Als der Film abgedreht war, hatten die vier in der Tat einen besonderen Film geschaffen: „Menschen am Sonntag“. Gedreht wurde ausschließlich im Freien. Das Avantgardistische bestand unter anderem darin, daß man keine Profis als Darsteller beschäftigte; man holte sich die Mitwirkenden von der Straße. Der Film berichtete von „gewöhnlichen Menschen in gewöhnlichen Situationen an einem ganz gewöhnlichen Sonntag in Berlin“. Die Uraufführung fand am 4. Februar 1929 im Berliner Ufa-Theater am Kurfürstendamm statt. „Diesen Tag werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen“, bekannte nachher Billy Wilder. „Die beiden Mädchen aus der Kopieranstalt brachten die neue Kopie zwanzig Minuten vor Beginn der Vorstellung. Ich riß aus der alten Kopie sämtliche schlechten Szenen heraus und ersetzte sie durch die neuen. Noch heute wundere ich mich, daß keine verkehrt eingeklebt wurde. Dann ging ich um die Ecke nach Hause, zog mich um und ging dann zögernd zum Kino zurück. Es war einige Minuten nach Schluß der Vorstellung. Ich traute mich nicht in den Saal. Plötzlich winkte mir der Geschäftsführer aufgeregt zu. Die Leute klatschten wie verrückt, und die Darsteller verbeugten sich auf der Bühne ... Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht des Erfolges herum. In zwanzig Minuten waren Tausende da, die den Film schen wollten. Seeler drohte mich zu erschieBen, falls ich nicht mit ihm auf die Bühne käme.“ Die Filmstory ist schnell erzählt - sie beginnt mit dem vorhergehenden Samstag. Der Taxichauffeur Erwin kommt nach Hause. Während er beim Abendessen die Zeitung liest, liegt seine Frau Anni auf dem Sofa und lackiert die Fingernägel. Sie wollen ins Kino, geraten aber in Streit, und Erwin bleibt zu Haus. Sein Freund Wolfgang lernt an einer Tramhaltestelle das Mannequin Christl kennen und verabredet sich mit ihr zu dem Sonntagsausflug an den Wannsee, der mit Erwin und dessen Frau Anni abgesprochen ist. Am Sonntagmorgen geht Erwin allein zum Treffpunkt, während seine Frau lieber im Bett bleibt und den Sonntag verschläft. Christl aber hat ihre Freundin Brigitte mitgebracht, zu viert fahren sie hinaus zum Wannsee. Wolfgang erhält eine Abfuhr, als er Christl küssen will und 15 wendetsich danach der blonden Brigitte zu. Sie finden sich sympathisch und verschwinden für eine Weile im Wald, was Christl eifersüchtig macht. Aber eine gemeinsame Bootsfahrt versöhnt die vier wieder. Als sie sich am Abend trennen, verabreden sie sich für das kommende Wochenende. Später fällt den beiden Männern jedoch das Fußballspiel am kommenden Sonntag ein. Leider haben sie die Anschrift der beiden Mädchen nicht - schon ist die kleine Sonntagsepisode vergessen. Erwin und Wolfgang teilen ihre letzte Zigarette, danach gehen sie in verschiedenen Richtungen auseinander... Heute gilt „Menschen am Sonntag“ nicht nur als einer der ersten Filme über das Leben einfacher Menschen, sondern stellt als erste Filmarbeit Billy Wilders und Robert Siodmaks ein filmhistorisches Dokument dar. Das „Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration“ vermeldet, Seeler sei 1933 nach Prag emigriert und 1935 nach Wien gegangen, „fand keine Arbeit und kehrte nach Berlin zurück“. Einem Brief Dr. Konstantin Kaisers vom 13. Juni 1993 entnehme ich: „Elisabeth Viertel glaubt sich Seelers erinnern zu können und bemerkte, er sei leider in den falschen Zug gestiegen. Daraus vermute ich, daß Seeler am 13. März 1938 bei dem Versuch, in die ÖSR zu gelangen, in die ‚Hölle von Lundenburg‘ geriet. Die Tschechen sperrten vorübergehend die Grenze und schickten die Flüchtlinge zurück. Lundenburg hieß die Grenzstation.“ Die Gedichte des 1937 bei Richard Länyi in Wien erschienenen Bandes „Die Flut“, so teilte Sceler seinem Freund Erich Heller in Evanston (USA) mit, seien, soforn nicht älteren Ursprungs, in Prager und vor allem Wiener Kaffeehäusern entstanden. Nach seiner Rückkehr nach Berlin sandte er Heller seine jüngsten Gedichte in Briefen, wodurch sie, wie es der Wunsch des Dichters war, erhalten blieben. Das letzte an Heller gelangte Gedicht, „Der Krug“, war am 25. August 1939 entstanden, wenige Tage vor Kriegsausbruch. Ahnungsvoll heißt es darin: „Ist es Abschied, was ich sende,/Da ein jüngster Tag begann?!/Flammen schon die Feuerbrände/Die kein Wasser löschen kann?!/Ja, fast scheint’s, die Hölle stände/Auf und fräße jedermann./Doch