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im Untergang und Ende/Fängt ein
neues, fängt das reinere Leben an.“

Im Besitz Professor Hellers befinden
sich etwa dreißig unveröffentlichte Ar¬
beiten Seelers; teils in Maschinen- und
teils in Handschrift — ein weiterer Ge¬
dichtband! Zu Seelers Lebensumstän¬
den in Wien vermochte er mir leider
keine Angaben zu machen.

Ein wenig besser Bescheid weiß man
über seine letzten Lebensjahre in
Berlin. Dort traf ihn, es war bereits
Krieg, der oberschlesische Roman
August Scholtis: „Am Rankeplatz er¬
kannte ich die verschüchterte Gestalt
Moriz Seelers ... Seine Kleider waren
abgeschabt. Als ich ihn anredete, er¬
schrak er erst, erkannte mich nicht
gleich, erhob sich demütig, erwartungs¬
voll und menschenscheu wie ein verprü¬
gelter Hund ... Ich deutete hinauf zu
meinen Fenstern im dritten Stock,
nannte meine Adresse ... Eines Abends
klopfte es an meiner Tür, ob ich ihn
wenigstens einige Tage beherbergen
wolle? Für die allernächste Zeit plane er
sowieso nach Holland zu verschwinden.
So verbrachte Moriz Seeler einige
Nächte auf meiner Couch. Im Morgen¬
dämmern verschwand er regelmäßig, im
Schutz der Dunkelheit kehrte er zurück
... Selbst in der größten Not schien er
noch Gedichte zu machen, einmal
kramte er aus seiner zerschlissenen Ak¬
tentasche viele Manuskripte hervor.
Eines seiner schwärzesten Gedichte
heißt „Grab eines Dichters“. Man weiß
nicht, wann er es niederschrieb, Es ist
ein leeres Grab, „der Hügel ist schon
eingesunken“, das Kreuz steht schief,
Wolken segeln drüber hin:

Niemand haust in diesem Grabe,

Und da west kein abgestorbner Rumpf.
Der drin lag, flog fort und sitzt als Rabe
Irgendwo auf einem Weidenstumpf.

Über Seelers Tod sind mehrere Versio¬
nen in Umlauf. Das bereits zitierte „Bio¬
graphische Handbuch der deutschspra¬
chigen Emigration“ gibt an, er sei am 15.
August 1942 nach Riga deportiert und
dort bei der Auflösung des Ghettos er¬
mordet worden. Aus anderen Quellen
weiß man, daß das Rigaer Ghetto Mitte
November 1942 aufgelöst und seine Be¬
wohner erschossen oder erschlagen
wurden. Etwa um dieselbe Zeit beging
sein Bruder, der Arzt, in Berlin Selbst¬
mord. Nach anderen Versionen kam

Seeler im KZ Mauthausen bei Linz, in
einem Bleibergwerk oder in einer ober¬
schlesischen Kohlegrube um. Am wahr¬
scheinlichsten dürfte jedoch sein, daß er
in Riga starb. Kurt Matthies, ein einfa¬
cher deutscher Schreibstubensoldat bei
einem höheren Heeres-Stab in Riga hat
das Ende des Rigaer Ghettos in seinem
Tagebuch festgehalten:

„14. Oktober (1942). Mit Pfählen und
Stacheldraht haben sie im engsten
Gewirr eines Vorstadtviertels das Ju¬
denlager abgegrenzt ... Vom Zerlump¬
ten bis zum Boulevardflaneur ist alles
beieinander: robuste Arbeiter, Kaftan¬
bärte, sauber rasierte Intelligenz.
Manches eindringliche Gelehrtenge¬
sicht. Ich höre auf einmal: zwei junge
Mädchen sprechen lebhaft miteinander
deutsch. Ich höre zum ersten Mal seit
Monaten statt des monotonen Landser¬
geseichs reines, unbefangenes Deutsch.
- 29. Dezember. Es ist jetzt heraus: in
den langen dunklen Novembertagen
haben sie das Rigaer Ghetto ausge¬
räumt und den größten Teil seiner Be¬
wohner draußen in den Wäldern unter
die Erde gebracht. Ich war an einer der
Stätten. Ein langer, sandiger, frisch auf¬
geworfener Erdwall unter Kiefern ...“

Literatur

Biographisches Handbuch der deutsch¬
sprachigen Emigration nach 1933.
München 1983

G. Elbin: Ermordet und vergessen. Der
jüdische Dichter Moriz Seeler. Neue
Zürcher Zeitung 1988

Hermann Kasack: Jahr und Jahrgang
1986. Hamburg o.J.

Max Krell: Das alles gab es einmal. 1961
Paul Marcus: Heimweh nach dem Kur¬
fürstendamm. München 1961

Murray G. Hall: Österreichische Ver¬
lagsgeschichte 1918-1938. Bd.2. Wien,
Köln, Graz 1985

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten.
Darmstadt, Neuwied 1985

August Scholtis: Der Herr aus Bolatitz.
München 1959

Moriz Seeler: Dem Hirtenknaben. Berlin
1919

Moriz Seeler: Die Flut. Wien 1937
Hans Heinrich Twardowski: Der rasende
Pegasus. Berlin 1920

Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von
mir. Frankfurt/M. 1969

Brief

Zu dem Zitat von Peter Paul Wiplinger
und der kurzen Anmerkung von K.K.
(„Warum Wiplinger die Konsequenz, ‚an
einem solchen Ende‘ zu verstummen
zog, und gar noch fiir den Gast aus New
York [Frederick Brainin], blieb mir
allerdings unverständlich.“) in MdZ
Nr.1/1993, S.7f.

Sie scheinen hier meine Aussage (im
Kontext) gründlich mißverstanden zu
haben. Ich habe weder für mich und
schon gar nicht für Brainin in irgendei¬
ner Weise die Konsequenz „zu verstum¬
men“ gezogen. Die Rede war von ganz
etwas anderem. ... wäre es nicht einfa¬
cher und korrekter gewesen, mich ...
diesbezüglich anzusprechen und ganz
einfach zu fragen?

Der ganze Passus hängt ja unmittelbar
mit jener vorher angesprochenen Tatsa¬
che zusammen, daß im Buch Brainins
jüdische Herkunft in der Biographie
ausgelöscht wurde, im Vergleich zu den
vorliegenden Druckfahnen, wo es
diesen so wichtigen Hinweis, diese we¬
sentliche Aussage zur Identität und jü¬
dischen Schicksalsgemeinschaft noch
gab. Darüber habe ich mir im Zusam¬
menhang mit dem Wahlplakat mit den
ungeheuerlichen Sprüchen des ehemali¬
gen SA-Sturmführers und späteren
österreichischen Parlamentsabgeordne¬
ten [Dr. Scrinzi] auf dem Geburtshaus
Brainins meine Gedanken gemacht:
ausgedrückt in einer Hypothese, in
einer Gedankenkonstruktion darüber,
was in Brainin innerlich vorgehen
konnte, sollte er dieses Papier auf
seinem Geburtshaus gesehen haben.
Das ist alles. (...) Jedenfalls stimme ich
mit Ihnen überein, daß es keine „Weihe
durch das Schweigen“ geben kann. Nur
würde ich lieber das Vorwörtc hen „ver-“
vor das Schweigen setzen. „Verschwei¬
gen“ drückt das, was ich meine, besser
aus. Verschweigen ist passives Lügen...

Peter Paul Wiplinger
Wien, 12.10., 18.10. 1993

Tatsächlich hat Brainin ohne Angabe
von Gründen darauf bestanden, den
Hinweis auf seine jüdische Herkunft in
seiner Kurzbiographie (5.4 von „Das
siebte Wien“) zu streichen. K.K.