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18 süchtigen verbitterten Alten, der man ihre liebste Straßenbahnlinie genommen hatte, mit der sie immer zum Friedhof fuhr. In New York gab es schon lange keine Straßenbahnen mehr. Auf dem Rückweg vom Friedhof besuchte sie oft eine gute alte Bekannte, noch vor dem Krieg hatten sie sich kennengelernt. Das hinderte die gute Bekannte nicht, Gissja Isaakjewna im Streit zu beschimpfen. Eine alte geizige, häßliche Saujüdin hatte sie sie genannt. Selbstverständlich bereute sie es sofort, natürlich hatte sie es nicht so gemeint, klarerweise entschuldigte sie sich, doch Gissja Isaakjewna hatte sich nach diesem Vorfall endgültig entschlossen — sie fuhr mit nach Amerika. Doch nun verwirrte sich alles im Kopf der Alten, gut und böse, richtig und falsch gingen ineinander über, und Borja mußte darunter leiden... Nicht, daß esin Amerika keinen Antisemitismus gäbe. Aber das heiße Klima in Israel und natürlich auch der hohe Blutdruck von allen dreien, von Borja, seiner Frau Galja und auch der Schwiegermutter, erlaubten es nicht, nach Israel zu gehen. Soweit die offizielle Version, die bei passender Gelegenheit Vertretern jüdischer Organisationen präsentiert wurde. Diese machten ernste, vorwurfsvolle Gesichter, aber sie ließen die Ausrede gelten. Die vorwurfsvollen Gesichter konnten weder Borja noch seine Frau oder gar die Schwiegermutter beeindrucken, lebten die Funktionäre doch schließlich allesamt entweder in Amerika oder in Europa. Aber für russische Juden mußte Israel gerade gut genug sein, kamen die Armen doch aus dem rückständigen, totalitären, antisemitischen Osten, waren sie doch prädestiniert dafür, die historische Heimat aufzubauen, ihr ihre ganze Kraft, ihren Enthusiasmus und ihr Blutzu schenken, jetzt wo doch so viele Israelis, diein diesem Land geboren und aufgewachsen waren, die sogenannten „Sabras“ also, beim Aufbau von Los Angeles mithalfen, und das gleich zu Hunderttausenden. Borja hatte kein schlechtes Gewissen; das mußte er in seinem Leben schon viel zu oft haben, als daß es jetzt wieder Besitz von ihm ergreifen hätte können. Er mußte zum Beispiel immer ein schlechtes Gewissen für seinen Vater haben, der als Folge eines Herzfehlers während des Krieges nicht an die Front mußte. Es hieß ja, daß die Juden Rußland in Taschkent verteidigt hätten. Und wie das Leben so spielt, hatte Borjas Familie den Krieg tatsächlich in Taschkent verbracht, wohin sie aus dem hungernden, belagerten Leningrad evakuiert worden war. Daß vier Brüder des Vaters und zwei Brüder der Mutter an der Front ihr Leben ließen, zählte nicht. Er mußte ein schlechtes Gewissen haben, weil er als leitender Ingenieur einem fähigen Kollegen geholfen hatte, der zufälligerweise auch Jude war, oder weil er die Einstellung eines neuen Mitarbeiters befürwortete, der, wie sich bald herausstellte, ebenfalls Jude war. Denn es hieß ja immer, daß sie zusammenhalten, diese Juden, allesamt klettern sie nach oben und helfen einander dabei. Er mußte ein schlechtes Gewissen haben, weil er sich über den Zustand des Landes und den seiner Bewohner abfällig geäußert hatte, denn welches Recht hatte er dazu, er, der kein Russe war, sondern ein Jude, nicht gerade ein Fremder, aber ein Anderer, ein Ausgeschlossener. Bestimmte Sachen könne er eben nicht wirklich, nicht in all ihrer Tiefe verstehen, denn das könne nur ein Russe, der das Verständnis für sein Land und sein Volk sozusagen im Blut habe. Vor seinen Eltern mußte er sich schämen, daß er mit einem nichtjüdischen Mädchen ausging. Man könne ja nie wissen, hieß es, ob sie nicht doch eine versteckte Antisemitin sei, und wenn er sie dann heirate und es käme dann zum Streit und sie würde etwas sagen oder es käme auch nicht zum Streit und sie würde trotzdem etwas sagen, was nicht gesagt werden durfte... Sie waren hocherfreut, als er schließlich Galja heiratete. Am meisten aber schämte er sich vor sich selbst, schon in der Schule, wenn er schlechte Noten hatte, die nicht von antisemitischen Lehrern kamen, sondern durchaus selbstverschuldet waren, wenn er auf der Universität die Materie nicht gut genug beherrschte, um der Beste zu sein, wenn er als Ingenieur einen Fehler machte, wenn er nicht schnell genug die richtige Entscheidung traf, denn er mußte nicht nur besser als die anderen sein, weiler Jude war, er war auch besser, schließlich war er Jude... Die Schwiegermutter hatte ihre Munition verschossen, er verstand, daß sie es nötig gehabt hatte. Jetzt könnte sie mir einen Kaffee kochen, dachte er, sprach es aber nicht aus. Vielleicht würde es den Lamentiermechanismus wieder in Gang setzten, außerdem war Kaffeetrinken bei der draußen herrschenden Hitze ohnehin ungesund. Beim Gedanken an ob es in New York viel kühler wäre alsin Tel-Aviv. Zumindest fiir den Sommer konnte man das nicht behaupten. In Leningrad war es anders mit der Warme und der Sonne. Da war sie freundlich und lebensspendend, sie war matt, und man konnte in sie schauen ohne die Augen zusammenzukneifen. Und trotzdem glänzten die Dächer der Häuser. Hier aber war die Sonne so männlich. Borja verabschiedete sich von der inzwischen ruhig, fast schon apathisch ins grelle Licht blickenden Schwiegermutter. Eine südseitig gelegene Wohnung, fast immer hell, erst recht jetzt im Sommer. Ein Glücksgriff. Drei Stunden mußte er jetzt arbeiten, vielleicht auch vier, eine Wohnung und neue Geschäftsräume ausmalen. Am Anfang war es schwer gewesen, sich an die neue Tätigkeit zu gewöhnen, vor allem da er seinen rechten Arm nicht richtig bewegen konnte, er ließ sich nur bis zur Schulterhöhe heben - ein Geburtsfchler. Doch jetzt war er eingeübt, er malte mit der linken Hand und hielt sich mit der rechten an der Leiter fest, unangenehm, aber bei drei Stunden gerade noch erträglich. Als er in die gleißende Hitze hinausging, dachte er, daß es wohl klüger gewesen wäre einen Hut aufzusetzen. Aber er war zu faul wieder hinaufzugehen. Er ging Richtung Meer, überquerte dabei die Straße, um im Schatten der Häuser gehen zu können, das Herz hämmerte schwer in den Schläfen, so kam es ihm vor, er glaubte, sein Kopf müsse jeden Augenblick zerspringen. Er blieb kurz stehen und holte tief Luft. „Als ob man heißen Wüstensand einatmet“, dachte er. Unwillkürlich fiel ihm wieder die Schwiegermutter ein. „Warum die sich in ihrem Alter das antut? Jeden Tagzum Meer und zurück. Irgendwann bekommt sie wirklich einen Sonnenstich, oder es trifft sie der Schlag. Wäre ja dann auch kein Wunder mit ihren 79 Jahren.“ Aus einem Hydranten, einem dunklen, gußeisernen Ungetüm, strömte Wasser.