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Manfred Altner

Eine Frau allein

Die Exilforschung, die auf Länder und
„große“ Namen profilierter Persönlichkei¬
ten abstellt, produziert trotz all ihrer Ver¬
dienste auch Defizite. Einzelschicksale und
individuelle Befindlichkeiten weniger be¬
kannter Autoren bleiben weithin unberück¬
sichtigt. Der von Wilhelm Sternfeld vor¬
gezeichnete Weg bio-bibliografischer Exil¬
forschung! ist bisher viel zu wenig beschrit¬
ten worden. Elitäre Tendenzen führten zu
einseitiger Orientierung auf die berühmten
Exillanten. In dickleibigen Biografien wer¬
den diese oftmals gleich mehrfach vorge¬
stellt, während andere leichtfertig verges¬
sen werden. Auch die besonderen Schick¬
sale der „Bücher im Exil“ sind noch viel zu
wenig beschrieben worden.

Einen bemerkenswerten Beitrag dazu, diese
Mängel der Exilforschung zu überwinden,
leistet Renate Wall mit ihrem kleinen Lexi¬
kon deutschsprachiger Schriftstellerinnen ¬
verbrannt, verboten, vergessen - , das 1988
bei Pahl-Rugenstein in Köln erschien und
demnächst in zweiter, bearbeiteter und er¬
weiterter Auflage vorliegen wird.
Gründlich und präzise recherchiert und prä¬
gnant formuliert, erhellt sie Lebensläufe
und Lebensleistungen von Schrift¬
stellerinnen, um sie vor dem Vergessenwer¬
den zu bewahren.

Und sie kennt auch den Namen Auguste
Wieghardt-Lazar, der ansonsten in ein¬
schlägigen Darstellungen weitgehend fehlt.

Als Auguste Wieghardt-Lazar im Mai 1939
von Dresden aus ins Londoner Exil auf¬
brach, allein auf sich gestellt und gleichsam
in letzter Minute, - ihr Reisepaß war bereits
abgelaufen -, war sie für die deutschen Be¬
hörden ein unbeschriebenes Blatt. Und das
war ihr Glück. Niemand hier wußte, daß
1935 unter dem Pseudonym Mary Macmil¬
lan in Moskau ein Kinderbuch mit dem
Titel ‚Sally Bleistift in Amerika“ erschie¬
nen war, dessen Verfasserin in Wirklichkeit
Auguste Wieghardt-Lazar hieß. Niemand
wußte, daß diese - wie ihre Titelfigur - Jüdin
war und seit vielen Jahren schon den illega¬
len politischen Kampf ihrer kommunisti¬
schen Freunde in Dresden tatkräftig unter¬
stützte. Hans und Lea Grundig, Fritz Schul¬
ze und Eva Schulze-Knabe, Herbert Gute,
Alexander und Gertrud Neroslow, der Ro¬

manist Victor Klemperer und seine Frau
Eva gehörten zu diesem Freundeskreis.
Auguste Lazar, am 12. September 1887 in
Wien geboren, stammte aus bürgerlich¬
liberaler, jüdischer Familie, studierte in
Wien Germanistik, promovierte dort 1916
mit einer Arbeit über E.T.A. Hoffmann zum
Dr. phil. und arbeitete dann als Lehrerin an
der fortschrittlich-liberalen Schule der Pad¬
agogin Eugenie Schwarzwald. 1920 heira¬
tete sie den Mathematikprofessor Dr. Karl
Wieghardt und folgte ihm nach Dresden,
wo er an der Technischen Hochschule wirk¬
te.

1924 bereits starb Karl Wieghardt. Auguste
Lazar war damals gerade 37 Jahre alt. Im
Schutze ihres Images als junge Professo¬
renwitwe, biirgerlich und unbescholten,
konnte sie den illegalen Kampf ihrer Freun¬
de als ,,Genossin ohne Parteibuch“ unter¬
stiitzen, indem sie z. B. Kurieren oder
Flüchtenden Unterkunft gewährte. ,,Ich
hatte nur einmal“, so berichtet sie in ihren
„Aufzeichnungen aus bewegter Zeit“, „‚ei¬
nen schüchternen Versuch gemacht, in die
Partei einzutreten. Das war nach Thäl¬
manns Rede in Reick gewesen. Mit Herbert
Gute hatte ich darüber gesprochen, und er
hatte gesagt: ’Du kannst uns wahrschein¬
lich mehr nützen, wenn du nicht in der
Partei bist.’ Er hat recht gehabt.“? Haussu¬
chungen wurden bei Frau Professor nicht
vorgenommen. Niemand verdächtigte sie
irgendwelcher politischer Aktivitäten, ob¬
wohl sie die Marxistische Arbeiterschule
besuchte, wo Hermann Duncker ihr Lehrer
war. Auch ihre jiidische Herkunft war den
Behörden und den Nachbarn weithin ver¬
borgen geblieben. Der respektgebietende
Professorentitel ihres verstorbenen Gatten,
so scheint es, gewährte ihr auch hierin lange
nachwirkenden Schutz. Die oft wochen¬
oder gar monatelange Abwesenheit von
Dresden, wenn sie in Wien bei ihrer Familie
oder in Kopenhagen und Stockholm bei
ihrer jüngsten Schwester Maria Lazar
(1895 - 1948) weilte, tat ein übriges dazu,
daß sie in Dresden unauffällig blieb. Und so
kam es ihr lange Zeit gar nicht in den Sinn,
in die Emigration zu gehen, wie sie selbst
schreibt.

Ihre Schwester Maria, selbst auch Schrift¬
stellerin - sie schrieb u. a. unter dem Pseud¬

onym Esther Grenen das Buch „Die Einge¬
borenen von Maria Blut“ (1935), das das
Heranreifen des Nazismus in Österreich
schildert, aber erst 1958 im Greifenverlag
Rudolstadt in der DDR erschien, war von
1923 bis 1927 mit Friedrich Strindberg ver¬
heiratet.” Sie lebte abwechselnd in Schwe¬
den und in Dänemark. Und Auguste Lazar
beteuert: „Ich wäre kaum imstande gewe¬
sen, es bis zum Jahre 1939 in Hitlerdeutsch¬
land auszuhalten, wenn ich nicht durch Ma¬
ria die Möglichkeit gehabt hätte, alljährlich
wochen-, zuweilen monatelang in Däne¬
mark aufatmen und ein freier Mensch sein
zu dürfen.“*

Stets wohnten sie dann auf der Insel Thurö,
wo die dänische Romanschriftstellerin und
Kinderbuchautorin Karin Michaelis (1872
- 1950) mehrere Grundstücke und Sommer¬
häuser besaß. Hier ‚‚fanden auch Bertolt
Brecht und Helene Weigel mit ihren Kin¬
dern Unterkunft, bevor sie sich das alte
Bauernhaus mit dem langen, niedrigen
Strohdach in der Nähe von Svendborg ein¬
richteten“.

In Dänemark, auf Thurö, im Hause von
Karin Michaelis, war es auch, wo Auguste
Lazar im Jahre 1936 ihre erste Begegnung
mit ihrem eigenen Buch ‚Sally Bleistift in
Amerika“ erleben sollte. Sie schildert diese
aufregende Begebenheit wie folgt:

In diesem Sommer blieb ich volle vier Mo¬
nate in Dänemark. Länger durfte ein deut¬
scher Staatsbürger, der nicht als Emigrant
anerkannt war, nicht verweilen. In dieser
Zeit versuchte ich, eine Einreiseerlaubnis
in die Sowjetunion zu erlangen. Trotz der
Zuvorkommenheit des sowjetischen Kon¬
suls gelang mir das nicht. Vielleicht war die
Zeit zu kurz, vielleicht besaß ich nicht die
notwendige Qualifikation. Ich war ja nicht
einmal Mitglied der Kommunistischen Par¬
tei. Meine einzige Legitimation war die
„Sally Bleistift“, die in Moskau erschienen
war und sich dort großer Beliebtheit erfreu¬
te. Davon hatte ich gerade ein Jahr vorher
erfahren. In Skovsbostrand war es gewe¬
sen, in dem schönen alten Bauernhaus mit
dem langgestreckten Strohdach und den
Malven an den weißgetünchten Mauern, in
dem die Brechts sich ihr erstes Heim im Exil
eingerichtet hatten. Hellis Schlafzimmer
war unter dem Dach untergebracht. Sie war
erkältet gewesen und mußte das Bett hüten.
Ich hatte mit ihr Karten gespielt - Sechsund¬
sechzig. Meine Schwester Maria hatte in¬
dessen in einem Stoß Zeitschriften geblät¬
tert und auf einmal laut und verwundert
gesagt: „Was? Sally Bleistift in Amerika?“