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Horst Jarka

„Vergriffen, vergessen usw.“

Jimmy Berg (1909 — 1988) — Komponist und Textautor im
New Yorker Exil'

„Sperrstund is’ “ hieß ein Lied, das Jimmy Berg 1936 in Wien geschrieben hatte. Als
zwei Jahre später über Österreich die barbarische Sperrstund’ verhängt wurde, mußte
Berg Wien über Nacht verlassen. Er ging ins amerikanische Exil. Viele Jahre nach dem
Krieg wurde Bergs Kellnerlied in Wien wieder bekannt, als Hans Moser es auf seiner
letzten Schallplatte sang. Elfriede Otts Show „ Melancholie mit FlinserIn“ in den frühen
siebziger Jahren schloß mit dem Lied. Bis vor wenigen Jahren war Bergs ‚‚Sperrstund’
is’ “ als Auftakt und Ausklang des ‚Senioren Clubs“ im Österreichischen Fernsehen
zu hören. Wer weiß noch, daß Berg schon in den dreißiger Jahren nicht nur sein
gemütliches Kellnerlied schrieb? Was weiß man in Österreich über Bergs Leben und

später?

Jimmy Bergs Vater war Buchhalter einer Weingroßhandlung in Wiener Neustadt. Er
wurde nach Kolomea in Polen versetzt, und dort wurde Jimmy 1909 geboren. Als er
fünf Jahre alt war, mußte der Vater in den Krieg. Die Mutter starb 1918. Jimmy wuchs
bei den Großeltern in Wien auf. Er hatte schon mit sechs Jahren Klavierstunden
genommen und verschrieb sich als Teenager der Musik. Sein Lehrer Marcus, Dirigent
des Wiener Arbeitersängerbundes, erwies sich als ausgezeichneter Pädagoge, konnte
aber moderne Musik nicht ausstehen, und als Jimmy von der Jazzbegeisterung der
zwanziger Jahre ergriffen wurde, mußte er moderne Musik ohne Wissen des Lehrers
üben. 1931 ging Berg, er war zweiunzwanzig, nach Berlin, schrieb deutsche Fassungen
amerikanischer Schlager, bald eigene Texte und Melodien. Im März 1933 wurde einer
seiner Schlager im deutschen Rundfunk von der Meldung unterbrochen, der Reichstag
stehe in Flammen. Berg kehrte nach Wien zurück, schrieb Texte, komponierte. Seine
Vorbilder waren George Gershwin, Ralph Benatzky, Friedrich Holländer, Kurt Weill
—- Komponisten, die wie er in Deutschland unerwünscht waren. Ein Schlager folgte dem
anderen; zwei davon gewannen Preise. Er schrieb sie allein, er schrieb sie mit anderen
— Schlager und Wiener Lieder, deren Texte sich von denen anderer kaum unterschieden.
Sie erfüllten die Erwartungen, boten Entspannung, gewohnte Gefühle; sie sollten die
triste Tagespolitik vergessen lassen. Bergs ‚‚Heimatland Österreich, Vaterstadt Wien“
erschien 1934, im Jahr des Februar. ,, Wien ist nicht nur die Walzerstadt“ lautete der
nicht ironisch gemeinte Titel eines anderen. Um fiir den einzelnen tiberhaupt etwas
abzuwerfen, mußte der Schlagerkommerz mit immer neuen Notenblättern gefüttert
werden, d.h. vor allem mit Melodien; auf die Worte kam es kaum an. Berg schrieb so
viele Schlager in jenen Jahren, daß man hätte meinen können, er wäre ganz der
Unterhaltungsindustrie verfallen: finanzielle Sicherheit bot sie dennoch nicht. Trotz¬
dem war es nicht nur die zusätzliche, an sich minimale Verdienstmöglichkeit, die ihn
1935 bewog, die musikalische Leitung der Kleinkunstbühne ABC zu übernehmen.
Bergs Tätigkeit spielte sich nun, ähnlich der Hans Weigels, auf zwei Ebenen ab. Auf
der „‚Straßenebene“ schrieb er weiter Melodien und Texte zu Tangos, Foxtrotts, mit
denen man die traurigen Zeiten wegtanzen konnte, und im „Keller“ nahm er teil an der
oppositionellen Subkultur während des Austrofaschismus. Einer seiner 1935 publizier¬
ten Schlager hieß ‚‚Blondes, kleines Mädel, du, nur du!“ ; der für ein ABC-Programm
desselben Jahres bestimmte „Reinarische Schlager aus Berlin“ begann mit den Zeilen
„Goldblondes Mädchen aus Groß-Berlin‘“ und endete ‚Mein liebes Kind , wir könnten
glücklich sein,/ Doch braucht zur Liebe heut man erst den Rassenschein!“

Jimmy Berg war sein Leben lang kein Aktivist, aber die politische Entwicklung
schärfte sein kritisches Bewußtsein, die Schlageridylle forderte den Spott heraus, und
Bergs satirische Texte jener Zeit verschonten weder die Traumfabrik Hollywood noch
das gemütliche Wien, sie attackierten den gar nicht so leise „‚schleichenden“ Antise¬

Die Vertreibung
österreichischer Musiker
und Musikerinnen

Ein Gespräch mit Gerhard Scheit

Gerhard Scheit ist Mitautor des Bandes
„Orpheus im Exil — Die Vertreibung der
österreichischen Musik 1938-1945 “, der in
diesen Tagen erscheint. Die Fragen stellten
Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser.

MdZ: Thr habt jetzt den Band ,,Orpheus im
Exil“ fertiggestellt, der demnächst erschei¬
nen wird. Glaubt Ihr, daß damit das Thema
Musik im Exil, Musik im Widerstand er¬
schöpft ist? Was sind die Gründe für das
Nachhinken der musikhistorischen For¬
schung hinter der Exilforschung auf ande¬
ren Gebieten? Ging die Exilforschung in
Sachen Musik vom Zentrum der Musikwis¬
senschaft oder eher von der „Peripherie“
aus?

G.S.: Das Thema ist keineswegs erschöpft.
Im Gegenteil: Unser Buch macht wohl eher
deutlich, wie wenig das Gebiet erforscht ist.
Es versteht sich als Beginn, als Anregung.
Dem entspricht der essayistische Charakter
des ersten Teils, während wir im zweiten
versucht haben, ein Lexikon aller zur Emi¬
gration gezwungenen Musiker und Musi¬
kerinnen aus Österreich zusammenzustel¬
len. Warum die Musikwissenschaft hierzu¬
lande bisher weitgehend versagt hat aufdie¬
sem Gebiet, ist vielleicht nicht so schwer zu
begreifen. Eine Reihe von Faktoren dürften