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40 macht, ist seine Sache.“ Er wird wohl recht haben, und schließlich steht es mir auch nicht zu, etwas dagegen vorzubringen, als ,, Westler“ schon gar nicht; nur das Essen schmeckt mir plötzlich noch weniger und den Kaffee lasse ich stehen. Und schon kommt eine Greisin an unseren Tisch, eine von den vielen alten Menschen, die stundenlang in den Kaffeehäusern sitzen und auf ihre Chance warten. „Na, Jungs“ ‚sagt sie und schaut gierig über die Schulter meines Cousins direkt in meinen Teller, als wollte sie ihn schon mit den Augen verschlingen, „wollen wir denn fertigessen heute?“ Kurze Pause. „Wenn nicht, habt ihr doch sicher nichts dagegen, wenn ich da ein bißchen mitnasche.“ Ich murmle etwas Zustimmendes und wir verlassen das Lokal. Jeden Tag eine gute Tat? Unsere dauernde Geschäftigkeit vertiefte ihre Desorientierung, obwohl wir alles, was in unserer Macht stand, versuchten, es so einzurichten, daß sie satt und sauber blieb... * Die Großmutter beschwert sich immer offener, daß sie nicht geliebt sondern nur geduldet werde, daß sie die eigene Wohnung aufgeben mußte und sich kaum mehr bewegen könne und eigentlich nicht mehr leben möchte. Jahrzehnte lang habe sie allein gelebt und sei jetzt auf Gedeih und Verderb der Schwiegertochter ausgeliefert. Und die Nachbarin, die ihren Sohn immer noch nicht gefunden hätte, weder im Leichenschauhaus noch im Gefängnis. Eigentlich, meint sie und schmunzelt sadei, sei immer alles nur schlechter geworden. Von den Pogromen, die sie als Kind erlebt, dem Stalinterror, der ihrem Bruder das Leben gekostet hat, dem Krieg, der Auswanderung meiner Eltern, ein schwerer Schlag für sie, bis zur Gegenwart, wo auf einmal nichts mehr gelten solle, was man ihr sieben Jahrzehnte lang beibrachte. Außerdem sei die Armut zurückgekehrt. Besser? Nein, besser sei es früher auch nie gewesen, nur anders. Wir haben für sehr viel Geld in einer Kommerzapotheke ,, Cerebrolisin“ aufgetrieben (übrigens ein österreichisches Produkt), ich bin von Apotheke zu Apotheke gelaufen. Ich bin sicher, daß auch Ihr nicht hättet mehr tun können und euch nicht unnötig quälen sollt mit Vorwürfen. Ich habe versprochen, alles Menschenmögliche zu tun, und habe mein Wort gehalten... * Der Onkel besitzt vier Fernsehapparate, einen Videorekorder, drei Telephonapparate, drei Radiogeräte. Als das Geld noch etwas wert war, hat er alles in seine Geräte investiert, sicher auch die Dollars, die wir ihm geschickt hatten. Kein Wunder, war doch Elektronik immer schon seine Leidenschaft, doch wurde er in den 50er Jahren als Jude zum Studium der Elektrotechnik und Radiomechanik nicht zugelassen. Erst kurz nach Mitternacht werden die Geräte abgereht, morgens um sieben geht es dann wieder los — die Frühnachrichten im Radio. Die politischen Ereignisse überschlagen sich. Jelzin hat das Parlament aufgelöst. Ich bin dabei, als diese Nachricht im Fernsehen bekanntgegeben wird. „So“, schreit der Onkel, ‚‚jetzt gibt’s Bürgerkrieg!“ Dann liegt er einen halben Tag mit schwerer Migräne im Bett. „Stürzt Jelzin, dann Gnade uns Gott“, erklärt er mir später. „Wenn die Leute schimpfen, vergessen sie meistens, wer das Land so heruntergewirtschaftet hat. Das war doch nicht Jelzin, das waren die anderen... Und wenn er mal weg ist, gibt es einen Pogrom, das ist das erste, womit DIE beginnen werden.“ „Ach, hér auf‘, sagt die Tante, ,,seit drei Jahren schon redest du von Pogromen, nichts ist geschehen.“ Ihre Stimme klingt beunruhigend unsicher. Als ich Großmutter nach ihrer Meinung frage, zuckt sie nur die Schultern. „, Weißt du“, sagt sie, ‚in ein paar Wochen werde ich sterben... Widersprich mir nicht, ich weiß es... Vielleicht sollte ich besorgt sein oder darüber nachdenken, was nach mir sein wird, vielleicht wegen meiner Kinder und meiner Enkel,... aber es berührt mich trotzdem nicht mehr.“ Ich hätte nicht fragen sollen. Er ist jeden Abend an ihrem Bett gesessen, sie haben sich an den Händen gehalten und geschluchzt, hin und wieder sagte er ihr etwas, streichelte ihre kranke Hand, ihren Kopf, er hing sehr an seiner Mutter, zu sehr vielleicht... * Ich befand mich wieder auf der Reise. Es war spät am Abend. Der Zug näherte sich Vyborg, der Grenzstation zu Finnland. Der Kreis hatte sich geschlossen. Die nächtlichen Bahnhöfe hatten ihre Faszination verloren, sie würden mit allnächtlicher Routine an mir vorbeigleiten, zumindest noch in den nächsten 634 Jahren. Vielleicht sind es aber auch nur noch 407 Jahre, dachte ich, und das war ein angenehmer Gedanke. Das letzte, was ich von Rußland sah, war ein Werbeplakat: ,,Snickers, wenn Dich der kleine Hunger packt!“ Ich ging in den Speisewagen, kaufte mir die Schokolade und verschlang sie so hastig, daß mir schlecht wurde. Um sechs hat sie noch gut zu Abend gegessen, um sieben rief sie mich, indem sie mit der Hand gegen ein Holzbrett klopfte. Das letzte, was sie lat, war zu zeigen, daß ihr die Brust und der Bauch wehtaten... Wir haben gesagt, daß man einem Menschen die Kleider anziehen sollte, die er am liebsten getragen hat; so war sie dann auch in ihren violetten Rock und in ihren braunen, geblümten Lieblingspullover gekleidet, um den Kopf ein weißes Kopftuch gewickelt und über ihren Körper eine schöne Decke gelegt. So haben wir sie den Flammen übergeben. Am nächsten Tag mußten wir mit der Urne durch die ganze Stadt zum jüdischen Friedhof (wo es ja kein Krematorium gibt). Ein Taxi zu bekommen ist schwer, und außerdem finden wir die halsabschneiderischen Preise empörend, die die Taxifahrer heutzutage verlangen. Nun gut, ich will es kurz machen, meine Lieben. Es ist uns also ein Mißgeschick unterlaufen bei der Fahrt. Als wir von der Straßenbahn in den Bus umstiegen, gab es das übliche Gedränge. Da ist Aaron, Gott sei dank schon im Businneren, die Plastiktiite mit der Urne aus der Hand gefallen. Die Tonurne ist naturgemäß zerbrochen und die Asche verstreute sich auf dem Boden des Busses. Die Leute haben furchtbar geschimpft, jemand stolperte und fiel hin. Es gelang uns schließlich, die zerbrochene Urne und den Rest der Asche doch noch zum Friedhof zu bringen und zu begraben. Was soll’s, den Toten tut’s nicht mehr weh, und die Lebenden werden es wegstecken... Arkadij Ostromuchow, geboren 1965 in Moskau, studierte Bühnenbild am Moskauer Künstlertheater, lebt seit 1989 in Österreich, freischaffender Künstler in Wien. Im Frühjahr 1995 wird Vladimir Vertlibs Erzdhlung ,, Deportation“ (Arbeitstitel) bei Otto Miiller in Salzburg erscheinen