macht, ist seine Sache.“ Er wird wohl recht
haben, und schließlich steht es mir auch
nicht zu, etwas dagegen vorzubringen, als
,, Westler“ schon gar nicht; nur das Essen
schmeckt mir plötzlich noch weniger und
den Kaffee lasse ich stehen. Und schon
kommt eine Greisin an unseren Tisch, eine
von den vielen alten Menschen, die stun¬
denlang in den Kaffeehäusern sitzen und
auf ihre Chance warten.
„Na, Jungs“ ‚sagt sie und schaut gierig über
die Schulter meines Cousins direkt in mei¬
nen Teller, als wollte sie ihn schon mit den
Augen verschlingen, „wollen wir denn fer¬
tigessen heute?“ Kurze Pause. „Wenn
nicht, habt ihr doch sicher nichts dagegen,
wenn ich da ein bißchen mitnasche.“ Ich
murmle etwas Zustimmendes und wir ver¬
lassen das Lokal.
Jeden Tag eine gute Tat?
Unsere dauernde Geschäftigkeit vertiefte
ihre Desorientierung, obwohl wir alles,
was in unserer Macht stand, versuchten, es
so einzurichten, daß sie satt und sauber
blieb...
Die Großmutter beschwert sich immer of¬
fener, daß sie nicht geliebt sondern nur ge¬
duldet werde, daß sie die eigene Wohnung
aufgeben mußte und sich kaum mehr bewe¬
gen könne und eigentlich nicht mehr leben
möchte. Jahrzehnte lang habe sie allein ge¬
lebt und sei jetzt auf Gedeih und Verderb
der Schwiegertochter ausgeliefert. Und die
Nachbarin, die ihren Sohn immer noch
nicht gefunden hätte, weder im Leichen¬
schauhaus noch im Gefängnis.
Eigentlich, meint sie und schmunzelt sadei,
sei immer alles nur schlechter geworden.
Von den Pogromen, die sie als Kind erlebt,
dem Stalinterror, der ihrem Bruder das Le¬
ben gekostet hat, dem Krieg, der Auswan¬
derung meiner Eltern, ein schwerer Schlag
für sie, bis zur Gegenwart, wo auf einmal
nichts mehr gelten solle, was man ihr sieben
Jahrzehnte lang beibrachte. Außerdem sei
die Armut zurückgekehrt. Besser? Nein,
besser sei es früher auch nie gewesen, nur
anders.
Wir haben für sehr viel Geld in einer Kom¬
merzapotheke ,, Cerebrolisin“ aufgetrieben
(übrigens ein österreichisches Produkt),
ich bin von Apotheke zu Apotheke gelaufen.
Ich bin sicher, daß auch Ihr nicht hättet
mehr tun können und euch nicht unnötig
quälen sollt mit Vorwürfen. Ich habe ver¬
sprochen, alles Menschenmögliche zu tun,
und habe mein Wort gehalten...
Der Onkel besitzt vier Fernsehapparate, ei¬
nen Videorekorder, drei Telephonapparate,
drei Radiogeräte. Als das Geld noch etwas
wert war, hat er alles in seine Geräte inve¬
stiert, sicher auch die Dollars, die wir ihm
geschickt hatten. Kein Wunder, war doch
Elektronik immer schon seine Leiden¬
schaft, doch wurde er in den 50er Jahren als
Jude zum Studium der Elektrotechnik und
Radiomechanik nicht zugelassen. Erst kurz
nach Mitternacht werden die Geräte abge¬
reht, morgens um sieben geht es dann wie¬
der los — die Frühnachrichten im Radio. Die
politischen Ereignisse überschlagen sich.
Jelzin hat das Parlament aufgelöst. Ich bin
dabei, als diese Nachricht im Fernsehen
bekanntgegeben wird.
„So“, schreit der Onkel, ‚‚jetzt gibt’s Bür¬
gerkrieg!“ Dann liegt er einen halben Tag
mit schwerer Migräne im Bett.
„Stürzt Jelzin, dann Gnade uns Gott“, er¬
klärt er mir später. „Wenn die Leute
schimpfen, vergessen sie meistens, wer das
Land so heruntergewirtschaftet hat. Das
war doch nicht Jelzin, das waren die ande¬
ren... Und wenn er mal weg ist, gibt es einen
Pogrom, das ist das erste, womit DIE begin¬
nen werden.“
„Ach, hér auf‘, sagt die Tante, ,,seit drei
Jahren schon redest du von Pogromen,
nichts ist geschehen.“ Ihre Stimme klingt
beunruhigend unsicher.
Als ich Großmutter nach ihrer Meinung
frage, zuckt sie nur die Schultern.
„, Weißt du“, sagt sie, ‚in ein paar Wochen
werde ich sterben... Widersprich mir nicht,
ich weiß es... Vielleicht sollte ich besorgt
sein oder darüber nachdenken, was nach
mir sein wird, vielleicht wegen meiner Kin¬
der und meiner Enkel,... aber es berührt
mich trotzdem nicht mehr.“ Ich hätte nicht
fragen sollen.
Er ist jeden Abend an ihrem Bett gesessen,
sie haben sich an den Händen gehalten und
geschluchzt, hin und wieder sagte er ihr
etwas, streichelte ihre kranke Hand, ihren
Kopf, er hing sehr an seiner Mutter, zu sehr
vielleicht...
Ich befand mich wieder auf der Reise. Es
war spät am Abend. Der Zug näherte sich
Vyborg, der Grenzstation zu Finnland. Der
Kreis hatte sich geschlossen. Die nächtli¬
chen Bahnhöfe hatten ihre Faszination ver¬
loren, sie würden mit allnächtlicher Routine
an mir vorbeigleiten, zumindest noch in den
nächsten 634 Jahren. Vielleicht sind es aber
auch nur noch 407 Jahre, dachte ich, und
das war ein angenehmer Gedanke.
Das letzte, was ich von Rußland sah, war
ein Werbeplakat: ,,Snickers, wenn Dich der
kleine Hunger packt!“ Ich ging in den Spei¬
sewagen, kaufte mir die Schokolade und
verschlang sie so hastig, daß mir schlecht
wurde.
Um sechs hat sie noch gut zu Abend geges¬
sen, um sieben rief sie mich, indem sie mit
der Hand gegen ein Holzbrett klopfte. Das
letzte, was sie lat, war zu zeigen, daß ihr die
Brust und der Bauch wehtaten...
Wir haben gesagt, daß man einem Men¬
schen die Kleider anziehen sollte, die er am
liebsten getragen hat; so war sie dann auch
in ihren violetten Rock und in ihren brau¬
nen, geblümten Lieblingspullover geklei¬
det, um den Kopf ein weißes Kopftuch ge¬
wickelt und über ihren Körper eine schöne
Decke gelegt. So haben wir sie den Flam¬
men übergeben.
Am nächsten Tag mußten wir mit der Urne
durch die ganze Stadt zum jüdischen Fried¬
hof (wo es ja kein Krematorium gibt). Ein
Taxi zu bekommen ist schwer, und außer¬
dem finden wir die halsabschneiderischen
Preise empörend, die die Taxifahrer heut¬
zutage verlangen.
Nun gut, ich will es kurz machen, meine
Lieben. Es ist uns also ein Mißgeschick
unterlaufen bei der Fahrt. Als wir von der
Straßenbahn in den Bus umstiegen, gab es
das übliche Gedränge. Da ist Aaron, Gott
sei dank schon im Businneren, die Plastik¬
tiite mit der Urne aus der Hand gefallen.
Die Tonurne ist naturgemäß zerbrochen
und die Asche verstreute sich auf dem Bo¬
den des Busses. Die Leute haben furchtbar
geschimpft, jemand stolperte und fiel hin.
Es gelang uns schließlich, die zerbrochene
Urne und den Rest der Asche doch noch
zum Friedhof zu bringen und zu begraben.
Was soll’s, den Toten tut’s nicht mehr weh,
und die Lebenden werden es wegstecken...
Arkadij Ostromuchow, geboren 1965 in
Moskau, studierte Bühnenbild am Moskau¬
er Künstlertheater, lebt seit 1989 in Öster¬
reich, freischaffender Künstler in Wien.
Im Frühjahr 1995 wird Vladimir Vertlibs
Erzdhlung ,, Deportation“ (Arbeitstitel) bei
Otto Miiller in Salzburg erscheinen