ehrbare Antisemitismus“, „„daß die Linke
sich am israelischen, id est, am jüdischen
Problem neu zu definieren hat“.
Renate Göllner
Ingrid Strobl: Das Feld des Vergessens.
Jüdischer Widerstand und deutsche ‚‚Ver¬
gangenheitsbewältigung“. Edition ID-¬
Archiv 1994, 140 S., 6S 110,-.
Liebesgedichte ohne
allzuviel Partnerliebe?
„Laß still bei dir mich liegen...“ , nennt sich
das kürzlich erschienene Bändchen mit Ge¬
dichten von Theodor Kramer. Das Hard¬
Cover-Büchlein im handlichen Format
wird nicht nur Menschen ansprechen, die
Theodor Kramers Lyrik bereits kennen und
schätzen. Insgesamt 113 Gedichte sind in
dieser Auswahl kompiliert. Bei 21 Gedich¬
te handelt es sich um bisher noch nicht
veröffentlichte Gedichte und die „Kleine
Erkältung“ erschien zuletzt im Oktober
1932. (Alle anderen Arbeiten stammen ent¬
weder aus den dreibändigen ‚‚Gesammelten
Gedichten“ oder aus dem Band ,,Orgel aus
Staub“, die gleichfalls im Europa Verlag
erschienen sind.) \
Handelt es sich bei diesen Gedichten aber
tatsächlich um Liebeslyrik, wie das mit ei¬
nem weiblichen Akt in hellem Rot auf
weißem Grund ins Auge des Betrachters
springende Bändchen verspricht?
Ein Bekannter, den ich kürzlich zufällig im
Restaurant traf und der sich für das neben
mir liegende Besprechungsexemplar inter¬
essierte, bestreitet dies. Nachdem er darin
geblättert und ein paar Gedichte gelesen
hatte, reichte eres mir in etwa mit folgenden
Worten zurück: „Was vorne angekündigt
wird, nämlich Liebesgedichte, wird drinnen
nicht geboten!“
Auf meine Frage, was ihm den abgehe,
zeigte es sich, daß er sich bei aller Nüch¬
ternheit des Textes auch einen Schimmer
Hoffnung erwartet hätte. Diesen enthält
ihm der Dichter aber vor. Dem Gedicht
„Morgen in der Wohnung eines Straßen¬
mädchens“ gestand er nicht einmal Erotik
zu, geschweige denn, daß jene Liebe daraus
herausleuchte, die er sich von einem Lie¬
besgedicht — nämlich einem an eine Partne¬
rin adressierten — erwartete.
Mit dieser Ansicht wird man dem Dichter
nicht gerecht: Theodor Kramer hat sich
doch in der Regel ganz bewußt auf diese
gänzlich nüchterne Basis als „Plattform“
für seine Arbeiten zurückgezogen. Gerade
dadurch erreicht er seine Leser, bleibt es
diesen doch nicht erspart, auf den Text in
irgend einer Weise zu reagieren. Und ein
Teil der damit konfrontierten Menschen —
wie eben auch der weiter oben genannte
Lyrik-Liebhaber — lehnen solche Arbeiten
eben ab. Derlei Reaktionen gibt es aber
nicht erst in unseren Tagen und dem Dich¬
ter war offensichtlich Ablehnung immer
noch lieber als Gleichgültigkeit. Das zeigte
sich bereits bei Veranstaltungen, bei denen
Theodor Kramer aus seinen Arbeiten vor¬
las. Eine davon beschreibt Anna Krommer,
damals Studentin des Guildford Technical
College, an dem Theodor Kramer als Bi¬
bliothekar arbeitete:
Es kam da Lyrik zur Geltung in strengem
Versmaß, in harmonischen Reimen, die in
ihrer Sachlichkeit viel Sexuelles umfaßten,
das die alten Fräuleins erröten ließ und
ihnen einen Schamschweiß auf die Stirn
trieb. Besonders Fräulein Smithys Busen
hob und senkte sich in atemloser Empö¬
rung, auch Fräulein Woolwich [diese ver¬
ehrte Theodor Kramer sehr; Anm. d. Rez.]
litt unter den derben Worten moralischer
Unzuldnglichkeit.
Als er nach einer Stunde das Manuskript
schloß, waren alle erleichtert und die eng¬
lischen Damen verabschiedeten sich ha¬
stig. Herr Kramer verweilte noch etwas
länger, trank noch einen Tee, erklärte, die
Gedichte seien zwar noch grob und unge¬
schliffen, aber doch einige seiner besten.
(A. Krommer: Theodor Kramer in Guild¬
ford. Aus dem unveröffentlichten autobio¬
graphischen Text „Refugium“. In: Zwi¬
schenwelt 1, S. 59).
Was Anna Krommer selbst während der
Lesung empfunden hatte, schildert sie mit
folgenden Worten: ‚Es waren Verse voll
Heimweh und Einsamkeit, die mich traurig
machten, denn ich hatte sie verstanden.“
Daß es dem Dichter tatsächlich vor allem
darum ging, den Menschen in schonungs¬
loser Offenheit Unzulänglichkeiten klar vor
Augen zu führen (vielleicht wollte er gera¬
de dadurch deren Behebung initiieren), läßt
sich an dem Vers ersehen, welcher jede
Ausgabe der Zieharmonika ziert. (“Nicht
fürs Süße, nur fürs Scharfe und fürs Bittre
bin ich da...“ ) Aber vielleicht war der Dich¬
ter sogar zur Liebe zu einer Gefährtin gar
nicht fähig und konzentrierte seine Zunei¬
gung in Wirklichkeit — und womöglich
ohne daß er sich selbst dessen bewußt war
— ausschließlich auf seine Heimat und auf
die Summe jener Menschen, ‚‚die ohne
Stimme sind“. Sehr für diese Sicht der Din¬
ge spricht das von ihm im August 1945 in
England verfaßte Gedicht „Mit Fünfzig“.
Die zweite Strophe in etwas derber Spra¬
che, der sich Kramer manchmal bediente,
halte ich für wichtig und Einblick in seine
persönliche Lebenseinstellung vermittelnd:
Ich weiß, wo gut man trinkt am Kai,
wohin man essen geht,
wenn auch ein Zünglein mit Püree
mir schon den Magen bläht.
Mit wem ich trink, wen ich umfaß
ist gleich, ich bin ein Mann,
solang ich leicht noch Wasser laß
und ich noch scheißen kann.
Das neue Bändchen mit Theodor Kramer¬
Gedichten dürfte daher nicht auf ungeteilte
Zustimmung beim Publikum stoßen, den¬
noch aber den Kreis der Fans von Theodor
Kramer in vermutlich erheblichem Umfan¬
ge vergrößern. Dies nicht zuletzt deswegen,
weil es eine ganze Reihe von Arbeiten ent¬
hält, die zu den besten des Dichters zählen.
Es ist kein Zufall, daß von den elf Gedich¬
ten, die Felix Mitterer für die Festveranstal¬
tung der Theodor Kramer Gesellschaft am
31. Mai 1994 auswählte, vier sich auch in
der vorliegenden Auswahl finden: Die
Weinmagd, Der reiche Sommer, Josefa und
Vorstadthure.
Auch für den Europa Verlag wird sich das
als Geschenk für praktisch jeden Anlaß
oder als Weihnachtsgeschenk eignende
Büchlein voraussichtlich als wirtschaftli¬
cher Erfolg erweisen.
Als einziger Kritikpunkt der auf warmem,
chamoisfarbenen Papier in ansprechender
Schrift gedruckten Gedichtauswahl wäre
abschließend daher vielleicht anzumerken,
daß sich als Untertitel die Bezeichnung
„Beziehungsgedichte“ vermutlich eher ge¬
eignet hätte als der gewählte Begriff Lie¬
besgedichte. Rudolf Sladky
Theodor Kramer: Laß still bei dir mich
liegen. Liebesgedichte. Wien, München:
Europa Verlag1994. 128 Seiten, 6S 187,¬
spricht am Montag, 21. November, 19 Uhr,
im Festsaal des Wiener Rathauses zum
„Mißbrauch der Erinnerung“ in der soge¬
nannten Vergangenheitsbewältigung