Jakov Lind - Textportrait
Zusammengestellt von Silke Hassler und Peter Turrini
I. Ansicht eines Schriftstellers
Auf die Welt zu kommen, war nicht leicht. Etwas hielt mich zurück, und etwas anderes
zwang mich, vorwärts und hinaus zu drängen. Jede Sekunde war eine Qual. Am Ende
des Tunnels zögerte ich einige Sekunden, draußen wehte ein kalter Wind, jede Haar¬
wurzel tat weh. Um mich an die Kälte zu gewöhnen, ließ ich erst das Haar raushängen,
und als der Schmerz nachließ, stieß ich weiter in die Kälte vor mir. Ich konnte die Kälte
bereits riechen, und als ich die Farben des Zimmers vor mir sah, schrie ich: Mir friert
der Arsch, Leute, bringt eine Decke.!
Jakov Lind wurde in die Erste Republik Österreich hineingeboren. Noch in eine
liberale Zeit und in ein sozialdemokratisches Wien, in dem das ,, Wer Jude ist, bestimme
ich“ erst leise und dann bald wieder lauter zu héren war.
Fiir die Osterreicher war mein Vater ein Osterreicher, aber Jude und Galizianer,
für die Juden kein Jude, aber Galizianer, fiir die Galizianer nur Jude. In seinen eigenen
Augen: ein Wiener.”
Im Goethehof, einem Arbeitergemeindebau der Vorstadt, in dem ungefahr zwanzig
jüdische Familien wohnten, dauerte es zwar etwas länger, war ebenso erschreckend und
— nach 1934 — umso unverständlicher, da sich diese Familien mit den Arbeitern
solidarisiert hatten und vollständig assimiliert waren.
Die ‘Mosaischen’, wie wir offiziell hießen, und die ‘Saujuden’, wie uns die Schul¬
kameraden nannten, waren vom katholischen Religionsunterrricht befreit, doch Pfar¬
rer Meinert, ein Künstler an der schwarzen Tafel, zauberte mit bunter Kreide ein
Paradies von Obst, Kastanienbäumen, Tieren und Blumen und Schmetterlingen an die
Wand. Um seine Bilder bewundern zu können, betete ich gerne ein lippenloses Vater¬
unser und hörte mir das Geheimnis der Dreieinigkeit an. In die Synagoge gingen wir
nur selten, und wenn wir gingen, durften wir nur ganz leise beten. Gott ist ein alter
Mann, schreit ihm nicht in die Ohren, warnte mein Vater. Meine Mitschüler waren alle
der Meinung, wir, die jüdischen Kinder des Goethehofs, hätten Christus ans Kreuz
geschlagen. Und wenn nicht wir eigenhändig, dann unsere Großväter oder Urgroßvä¬
ter. Eine gemeine Anschuldigung, die sich aus Mangel an Gegenbeweisen schwer
widerlegen ließ.
Ohne den Blick für das Verhalten seiner Mitmenschen besonders schärfen zu
müssen, wird der Haß und die Niedertracht schnell offenbar. Als der Achtjährige die
Literatursymposion Jakov Lind
Ein Symposion!, das vom 9. bis 16. Jänner
im Literaturhaus Salzburg, am Germa¬
nistischen Institut der Universität Wien,
dem Literarischen Quartier der Alten
Schmiede, dem Literaturhaus Wien und in
der „Alten Welt“ in Linz abgehalten wur¬
de, hat versucht, das literarische Werk Ja¬
kov Linds zu würdigen. Der 1927 in Wien
geborene, seit Jahrzehnten in London le¬
bende Autor war — wenn nicht sein Name
mit der ,,Gruppe 47“ oder mit einer seiner
Veröffentlichungen der 60er Jahre assozi¬
iert wurde — von vielen wieder aus den
Augen verloren oder noch gar nicht ent¬
deckt worden. Dies war auch das erklärte
Ziel dieser Veranstaltung: Mit Lesungen,
Vorträgen, Hörspiel- und Filmaufführun¬
gen — im Wiener Literaturhaus wurde der
1964 gedrehte avantgardistische Kurzspiel¬
film „Die Öse“ gezeigt — die Viel¬
schichtigkeit seines Werkes aufzuzeigen,
um damit eine Wieder- und Neuentdekung
zu iniitieren. Die Anzahl und die
generationsübergreifende Zusammenset¬
zung des Publikums läßt diesen Versuch als
gelungen betrachten. Die Inhalte seines au¬
tobiographischen Schreibens — Vertrei¬
bung, Flucht, das Problem der Rückkehr,
Identität, Sprache, Heimat — und literari¬
schen (Euvre — Wahnsinn, Gewalt, Ideolo¬
gien, Utopien — können allerdings auch als
erschreckend aktuell bezeichnet werden.
Die Lesungen von Jakov Lind aus frühen
Texten der 60er Jahre, die noch auf deutsch
verfaßt wurden, und Romanen, die erinden
80er Jahren auf englisch publiziert hat, ha¬
ben gezeigt, daß sich seine Thematik — die
Auseinandersetzung mit einem Phänomen,
das sich als Nationalsozialismus verstand
und dem es gelang, ganz Europa, bis weit
über seine Grenzen hinaus, in einen grausa¬
men Weltkrieg zu stürzen — zwar nicht
grundsätzlich ändert, sein Stil spielerischer,
sein zum Teil grotesker Humor nuancenrei¬
cher werden. Durch die zweisprachige Le¬
sung aus „‚The Inventor“ und der von ihm
nachbearbeiteten Übersetzung, dem _ ,,Er¬
finder“ , wurde deutlich, wie sich seine lite¬
rarischen Stilmittel im Englischen und
Deutschen unterscheiden und jedes seiner
Bücher als eigenständiges und hervorra¬
gendes Werk zu lesen ist.
Die Ausgrenzung sowohl eines Menschen
durch eine bestimmte Politik als auch eines
Künstlers durch Mechanismen des Wissen¬
schafts- und Kulturbetriebes können trotz¬
dem nicht wiedergutgemacht werden. Ja¬
kov Linds Erzählungen, Romane und auto¬
biographischen Texte sind in vierzehn
Sprachen übersetzt worden. In der eng¬