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und von der Shoah, die ihn in die Verarmung in das Exil nach New York verstieß, beirren. Wie hier zeigt Wallas auch an anderen Beispielen, wie sehr sich „‚im Werk Ehrensteins Biographie und Literatur miteinander vermischen“ und wie sehr die Rezeption der Antike einen Teil der Identitätssuche des Dichters bildet. Ehrensteins vielleicht bekanntestes Werk, „Tubutsch“, das von seinem lebenslangen Freund Oskar Kokoschka illustriert wurde, analysiert Wallas anhand der Rezeption durch Berthold Viertel, Ernst Weiß und jüngst Karl-Markus Gauß als eine moderne Interpretation des Ahasver, des wandernden Juden, und jüdischer Diaspora und Ghettoerfahrung. Eigene Abschnitte widmete Wallas auch Ehrensteins Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg, der ihn in einen Gegensatz zu den meisten anderen österreichischen Autoren stellte und seiner späten Rezeption von J.J. Bachofen im Zusammenhang mit seiner eigenen mutterrechtlichen Utopie. Wallas hat für seine bereits vor einigen Jahren geschriebene Studie noch mit dem Nachlaß Ehrensteins in der jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem gearbeitet und für diese auch das unveröffentliche, fragmentarische und handschriftliche Frühwerk herangezogen, während im Boer Verlag inzwischen auch eine von Hanni Mittelmann herausgegebene mehrbändige Werkausgabe Ehrensteins, von der die ersten beiden Bände bereits vorliegen, erscheint. Der an der Universität Klagenfurt lehrende Germanist Armin A. Wallas, der sich seit der 1988 erschienenen Anthologie ‚Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zum österreichischen Expressionismus“ in zahlreichen Publikationen als der Spezialist und Erforscher des österreichischen jüdischen Expressionismus einen Namen machte, hat auch mit dieser Studie ein besonders wichtiges und lesenswertes, trotz seines Umfangs auch leserfreundliches Werk vorgelegt. Evelyn Adunka Armin A.Wallas: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München: Klaus Boer Verlag 1994, 562 S., 6S 999,-. Wir bluten hier iiberall und jede Minute, wir bezahlen mit dem Verlust der elementarsten Lebenswerte, und das diplomatische Wetteifern Frankreichs und Englands auf der einen und Deutschlands und Osterreichs auf der anderen Seite bezahlen wir mit neuem Tod, Leiden, Resignation, neuen Gedanken an Selbstmord, dem Verlust der Kräfte, mit Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Bosnien rinnt uns durch die Finger, denn es hat zwei grimmige Tiere in sich, zwei Logiken, die es von innen her zerstören, zwei verschiedene, aber dennoch identische Gestalten des Sezessionismus: eine im Osten, eine im Westen, die damit rechnen, daß Bosnien liquidiert werden muß wegen eines bedeutenderen Zieles - der Schaffung Großserbiens und Großkroatiens. Heute kann es geschehen, daß sich die sogenannte offizielle Regierung in Bosnien-Herzegowina, durch die Umstände gezwungen, nicht länger als eine Option eines bürgerlichen ProJekts Bosnien darstellen kann und sich endgültig auf den radikal muslimischen Standpunkt stellen und den Kreis der religiös-ethnischen Kriege schließen muß. [...] Wenn das Projekt eines einheitlichen, bürgerlichen Bosnien-Herzegowina uns in dieser Phase durch die Finger rinnt, dann wird es wahrlich schwer sein, die Ausweitung des Krieges zu verhindern. Dann werden erst Chaos und Anarchie entstehen. Bozidar Gajo Sekulic, Philosoph in Sarajevo, Sommer 1993, in: Todorovic, Sarajevo, S.112f. Der bosnische Krieg ist Normalität geworden, er ist von den Titelseiten gerutscht, und der intellektuelle Zirkus ist weitergereist. Die Berichte von den aktuellen Kriegsereignissen erschrecken und die Verwicklungen auf der diplomatischen Front decken das nach wie vor zunehmende Elend zu. In dieser Situation kann ein Buch wie jenes von Muhidin Saric den Nebelvorhang zerreißen. Paul Parin spricht in seinem Vorwort von der Wirkung dieses Berichtes auf ihn: ,,Der Autor erzählt so, daß wir miterleben müssen, was er erzählt.” Und: „Es ist unerträglich.” Muhidin Saric berichtet über das serbische Lager Keraterm, wo er selbst gefangen war und wo, im Frühjahr und Sommer 1992, ‚auf die schändlichste Weise sechshundert Menschen umgebracht und mehrere tausend seelisch verstümmelt worden sind.” (S.210) Saric hat die Mitgefangenen ermutigt, von den erlittenen Grausamkeiten zu erzählen, weil dies die einzige Erleichterung war, die es in Keraterm gab. Und diese Erzählungen dokumentieren den Genozid im Bezirk Prijedor, aus dem etwa 70.000 Muslime und Kroaten vertrieben wurden. „Frauen und Kinder wurden nach Travnik vertrieben und die Männer umgebracht oder in Lager verschleppt. Ihr ganzer Besitz ist vernichtet und geraubt.” (S.92) Die Gefangenen können die Planmäßigkeit der serbischen Landgewinnung und ethnischen Vertreibung anfangs gar nicht fassen, langsam begreifen sie die rohe Wahrheit: „Du wirst doch wohl nicht sagen wollen, daß ein Nachbar den anderen Nachbarn ausraubt, ihm das Haus anzündet und ihn umbringt, nur um morgen mit ihm Arm in Arm ins erstbeste Gasthaus auf ein Glas Schnaps zu gehen.” (ebd.) Die Gefangenen wurden von den serbischen Aggressoren brutal aus ihrem Leben gerissen, ihr Menschenrecht wurde im Namen eines nationalen Besitzrechtes verstiimmelt: Die Haftlinge berichten von der Gewalt serbischer Männer gegen Frauen, von der Zerreißung sogenannter gemischter Ehen, die am Land ohnehin nie akzeptiert waren; serbische Männer ermordeten ihre Schwestern, die durch ihre Ehen Schande über ihr Volk gebracht hätten. Vermeintlicher Reichtum in den Haushalten von Gastarbeitern war ein bevorzugtes Ziel der Plünderer. Und auch von spontanen Ansätzen bosnischer Verteidigung wird erzählt, die meist im Trommelfeuer der serbischen Kanonen und Panzer zusammengebrochen sind. * Saric schildert seine 52 Tage im Lager Keraterm, die geprägt sind von unfaßbarer Gewalttätigkeit der rassistischen Tschetniks. Nur selten verfolgt ihre Gewalt ein begreifbares Ziel, aus einigen Gefangenen versuchen sie Geständnisse herauszupriigeln — sie hätten in ihren Dörfern die Serben liquidieren wollen. (S.138f.) Die Tater versuchen einigen ihrer Opfer Eingeständnisse von Schuld in der Folter abzupressen. Und manchmal bricht der Panzer der Täter, in einer Nacht tobt der Lagerkommandant, Hauptmann Kajin, betrunken durch das Lager und nötigt den Häftlingen seine Rechtfertigungen auf. Er brüllt, daß er kein schlechter Mensch sei, daß sich niemand vor ihm zu fürchten brauche, um gleich darauf in Morddrohungen zu verfallen und die gefangenen Muslime und Kroaten zu demütigen. Und schließlich versteckt er sich hinter dem Abwehrschild der Täter, dem Befehl und dem Gehorsam. (S.204f.) Die Weltpresse machte im Sommer 1992 das Lager Omarska zum Symbol der serbischen Mordpolitik. Um ihre Vernichtungspolitik vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen, schloß die serbische Soldateska dieses Lager und auch Keraterm. Die Gefangenen wurden in ein relativ „normales” Lager überführt und dort entlassen. Vorbedingungen der Entlassung waren die Aufnahmegarantie eines Exillandes und die Abmeldung im Heimatort. Dann stellten die serbischen Behörden eine „Aussiedlungsbescheinigung” aus, die neben anderem beinhaltet, „daß der Genannte allen materiellen Gütern zu Gunsten der serbischen Behörden entsagt.” (8.217) Damit war die Ausstoßung abgeschlossen, die Überlebenden des Terrors wurden vertrieben. Goran Todorovic verläßt 1994 Sarajevo, um dessen Überleben er zwei Jahre mit dem Wort gekämpft hat. Sein Buch ist eine Montage aus Reportagen und Interviews mit bosnischen Persönlichkeiten. Von der Gegenwart aus, dem Abflug des Autors aus der eingeschlossenen Stadt, beginnt eine Chronik der Kriegsjahre 1994, 1993 und 1992, arbeiten sich die Texte bis zu den Ausgangspunkten des Krieges vor. Die Reportagen am Ende des Buches berichten vom massenhaften Aufbegehren der Sarajlijes (Bürger Sarajevos) gegen den beginnenden Krieg — wie sie mit blossen Händen gegen die ersten Absperrungen und Barrikaden anrannten, wie sie versuchten das Hauptquartier der zum Krieg aufhetzenden Serbischen Partei (SDS) zu stürmen. Dieser gewaltlose Widerstand wurde im serbischen Trommelfeuer in der heißesten Phase des Krieges im Frühjahr und Sommer 1992 gebrochen. Die Parallelität zum Gewaltausbruch in dieser Zeit um Prijedor ist nicht zu übersehen. Schnell und radikal wurden erste vollendete Tatsachen geschaffen. Die erste Verteidigung Sarajevos wurde von der 41