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stickten Kleid, mit langen Flügeln und goldenem Heiligenschein als Engel verkleidet, sollte die vierjährige Jettel beim Weihnachtsfest vor den Gönnerinnen der Anstalt — adeligen Damen, Gattinnen von Offizieren und Geschäftsinhabern - ihre stumme Rolle spielen. Aber im Trubel der Vorbereitungen wurde auf sie vergessen. Niemand holte sie ab, im Speisesaal, in dem sie auf ihren Auftritt wartete. Nirgends sonst schreibt Henriette Haill so direkt von sich selbst. Vergessen werden und das Vergessenwerden vergessend, während sie sich in Träumereien verliert; ihr Abseitsstehen, als Betrachterin und Zuschauerin, immer allein unter vielen: “ Trotz meiner wenigen Jahre wußte ich plötzlich, wo mein Platz im Leben sein würde und daß ich weder einen Silberflügel noch einen goldenen Reif zu erwarten hätte.” Familienchronik Mein guter Vater war Soldat, Fiel in der Schlacht um Stalingrad. Meine Schwester ging in die Rüstungsfabrik, Ein Bombentreffer war ihr Geschick. Meinen Bruder hat man ins Lager gesteckt, An Hunger und Typhus ist er verreckt. Meine Mutter hat die Gestapo geholt, Unterm Henkerbeil ist ihr Kopf gerollt. Nur ich, das Jüngste, blieb besteh’n, Um euch zu sagen, Um anzuklagen, Was mir gescheh’n. Schwer zu sagen, wie viele Gedichte Henriette Haill im Lauf der Jahre geschrieben hat. Die politisch verfänglichsten hat sie, in Wachstuch eingeschlagen, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht vergraben. Mäuse haben den ganzen Packen gefressen. Sie hat sich nicht gescheut, Gedichte als Aufruf zu gestalten, als Zuspruch, als Bekenntnis: “Zwölfter Februar!”, “Februarkämpfer!”, “Kommunisten!”, “Rote Armee!”, “Roter Oktober!”, “Erster Mai!”, “Völkermai!”, “Friedensfahnenlied der Junggardisten!”, “Verlorene Schlacht!” , “Hungerndes Kind!”, “ Ans Mutterherz der ganzen Welt!”, “An Österreichs Frauen!”, “An die Aktivistin”, “Unsere Zeitung!”, “Dreißig Jahre K.P.Ö.!”, “Prolog zum Landesparteitag der KPOe 1946” ,“ Unter dem Banner Lenins!”, “Glaube an Österreich!”. “Es glüht der Welt ein Morgenrot,/Für alle Menschen gibt es Brot./Mein Traum wird Zukunft werden.” Es ist leicht, über diese politische Fertigteilpoesie zu spotten. Vor allem, wenn man sich aus Eigennutz und Überdruß eine feste Burg erbaut hat. Haus In ihren Geschichten spielt das Haus mit der Nummer 15, in dem Henriette Haill unter “Gestrandeten, Enttäuschten und Enterbten” aus dem Mühlviertel aufwuchs, eine große Rolle. Hier wohnten, schreibt sie, der Schandfleck neben dem, der unverschuldet Leid trug, die überständige Jungfrau, die Kinderreichen, die Witwe neben der ledigen Mutter, der angesehene Professionist, der Tagedieb und Säufer, der Leichtsinnige und der Unglücksrabe. “Manchmal kamen feine Damen ins Haus, um unser Elend zu besehen, schüttelten die Köpfe, tätschelten die hübscheren Kinder, schoben uns ein Zuckerl in den Mund und gingen, von Abscheu geschüttelt, wieder. Tagelang spielten wir Mädchen dann Damen, schoppten uns die Brüste aus, wickelten einen alten Vorhang um den Leib und ahmten das Gehabe eleganter Frauen nach. Das Haus hatte vielerlei Gerüche, es duftete nach Kohl und Sauerkraut, im Herbst und im Winter nach Holler- und Apfelkoch, nach Bohnen, Linsen und Erbsen, selten nach Fleisch.” Henriette Haill Werke von Henriette Haill Henriette Haill: Befreite Heimat. Kampfgedichte und Friedenslieder. Linz: Verlag Neue Zeit 1946. 76 S. Henriette Haill: Die StraBenballade. Hg. v. Peter Kammerstätter. Typoskript, Linz 1980. 113 S. Henriette Haill zum 80. Geburtstag. Aus ihrem Leben und Schaffen. Hg. v. Peter Kammerstätter. Typoskript, Linz 1984. 212 S. Henriette Haill: Der vergessene Engel. Grünbach: Edition Geschichte der Heimat 1991. 119 S. 11