Drei Gedichte über Ernst Jünger
und Heiner Müller,
„Innere Emigration“ und
Widerstand
In einer Loge der Zeitgeschichte,
vor sich die Zigarrenkiste
und die Champagnerflasche,
Ernst Jünger und Heiner Müller,
der eine in Uniform, der andere
in Genossenzivil, ausgerüstet
mit dem Zeiss-Glas sitzen sie
und mokieren sich über Hitler
und Ulbricht, über die Mörder und
ihre Opfer, über Mitläufertum,
Arschkriechertum, deutschen Gehorsam
und proletarische Pflichterfüllung
in neutraler Zeitzeugenschaft.
Wie schön, in die deutsche
Geschichte geboren zu sein,
in die Ungeheuerlichkeiten,
die sich zu Tagebüchern, Stücken
und allen anderen Formen
der Literaturverwertung eignen.
Auch ich war, sagte Veli,
in der inneren Emigration. Vormittag
war ich bei der SA,
nachmittag Staatsbeamter,
aber in der Dämmerstunde
hielt mich nichts mehr zurück.
Ich verfluchte die Einheitspartei,
den Diktator und übte
mich in heimlicher Opposition.
Das alles in höchster Diskretion.
Kein Laut drang nach außen.
Wenn ich’s genau überlege,
habe ich dieses System nicht mehr
aufgegeben.
Tagsüber erfülle ich meine Pflicht
und wenn es nicht anders geht,
rede ich den Leuten nach dem Mund.
Aber im Wahrheit, im tiefsten Inneren
gehöre ich nicht dazu.
Ich entferne mich in angemessener
Vorsicht
von meinem Tagewerk
und Tagesglauben in das
Geheimnis meiner Selbständigkeit.
Läßt sich die Schriftstellerin Henriette Haill der Inneren Emigration zuschlagen? Oder
zwingt uns die Beschäftigung mit ihrem Leben und Werk nicht, diesem Begriff zu
mißtrauen? Liegt ihm der naive Glaube an einen dritten Weg in der Auseinandersetzung
mit dem Faschismus zugrunde, oder im Gegenteil die einfältige Behauptung, alle
Anständigen seien von den Nazis vertrieben oder ermordet worden, alle Hiergebliebe¬
nen, Übriggebliebenen seien Mitläufer, Mittäter?
“Die NS-Zeit” ‚sagt Haill, “ war eine Bedrücktheit, Angst, wie wenn das graue Elend
auf mich gefallen wäre.” Sie spricht von dem “furchtbaren Zwiespalt”, in dem viele
gefangen waren: einerseits die Niederlage des Faschismus herbeisehnend, andererseits
in Sorge zu sein um die Brüder und Genossen an der Front.
Viele Nachgeborene sind verkniffen in ihrem moralischen Streben. Sie bohren nach
Schuld und Unschuld, statt Verbrechen zu ahnden, Sühne und Scham zu fordern. Sie
behaupten: “die Kriegsgeneration”. Haill ist eine aus dieser Generation, und sie ist
Antifaschistin, auch damals schon gewesen. Sie war vorsichtig. Man hat sie nicht
abgeholt. Trotzdem, sie war keine innere Emigrantin: Sie mußte jederzeit damit
rechnen, abgeholt zu werden.
Jugend “ Als der Erste Weltkrieg mit seiner Grausamkeit und seinen Erschütterungen
vorbei war und die Wogen des zurückgelassenen Chaos sich zu glätten begannen, wurde
es Mode, in großen Gruppen politisch Gleichgesinnter zu wandern.
Es gab damals noch keine Autobusse, und man hätte auch dafür das Geld weder
gehabt noch ausgegeben. Zu Fuß ging es also nach jeder Richtung ins Mühlviertel.
Nach der schweren Zeit war die Luft wie reingefegt, wir glaubten an die Allianz der
Völker, wir klebten Plakate: Krieg dem Kriege! und an Grenzübergängen: Reißt die
Grenzpfähle aus! Während wir noch an eine herrliche Zukunft glaubten, ahnten wir
nicht, daß auch in jenen Jahren schon der Zweite Weltkrieg ausgebrütet wurde.
Auf unseren Wanderungen brachten wir möglichst viele Kilometer hinter uns,
was wir ‘Kilometerfressen’ nannten. Damit prahlten wir dann zu Wochenbeginn in
der Werkstatt, bei Zusammenkünften und auf der Stempelstelle des Arbeitsamtes.
Wir hatten eine Fröhlichkeit, die ich heute, im Zeitalter der Atombombe und des
Wirtschaftswunders, vermisse. Wir lachten über alles: über die Sonne, die uns
beschien, und den Regen, der uns überraschte; über kleine Mißgeschicke anderer
und über die eigenen Fehler und Schwächen. Begegneten uns Gruppen von Wan¬
dervögeln oder christlichen oder nationalen Vereinen, warfen wir uns beißenden,
aber ungehässigen Spott zu, übertrumpften einander mit Argumenten und Beweisen
und saßen trotzdem gemeinsam am Lagerfeuer, sangen in Ruinen gemeinsam
Volkslieder und wurden in Landheime eingeladen und dort beherbergt. Denn die
Jugend ist großzügig und das Jungsein verbindet oft mehr als Politik und Weltan¬
schauung. Die politischen Fronten waren damals noch nicht so verhärtet, das kam
erst später, aber früher, als wir gedacht hatten.”
So beginnt die Geschichte vom Kernschepperer alias Stelzfuß alias Vinzenz, dessen
wirklichen Namen die Erzählerin nie erfährt. Der Kernschepperer ist eigentlich ein
Faßlapfel, dessen Kerne im Gehäuse klappern, wenn man den Apfel schüttelt, und der
Mann, den sie den Kernschepperer nennen, ist ein Kriegsinvalider, der zusammen mit
seiner schwachsinnigen Schwester Mali ein kleines Stück Land bewirtschaftet. Er hätte
Haus und Hof erben sollen, aber als er aus dem Ersten Weltkrieg beinamputiert nach
Hause kam, übergaben die Eltern den Hof seinem Bruder, und der Bruder kriegte auch
seine Braut. — Jedenfalls bricht das Dritte Reich herein, auch über das abgelegene
Häuschen des Kernschepperers, und irgendwer schwängert seine Schwester, sie bringt
ein gesundes Mädchen zur Welt, in das der Kernschepperer ganz vernarrt ist, und er
soll die Mali und das Kind in ein Heim geben, er lehnt ab, doch eines Tages, wie er
nicht zu Hause ist, wird die Mali samt ihrem Annerl abgeholt. Vielleicht Hartheim,
Todesspritze. Danach ist nichts mehr so wie früher. Ein paarmal noch kehrt die
Erzählerin beim Kernschepperer ein, in einem harten Winter stirbt er. Als sie Jahre
später vorbeikommt, ist die Keusche in der Einschicht zum Wochenendhaus eines
argwöhnischen Städters geworden.
Das ist die Geschichte vom Kernschepperer, lapidar erzählt, scheinbar ohne Gefühls¬
regung, im Wissen um vieles, das vergeht, um die Male, die bleiben.